78. UN-Generalversammlung: unversöhnliche Fronten. Scholz offenbart verhängnisvolle Geschichtslücken
Wolfgang Effenberger
Am 19. September 2023 sprach Bundeskanzler Olaf Scholz anlässlich der 78. Generaldebatte der Generalversammlung der Vereinten Nationen(1) und erinnerte eingangs an ein besonderes Jubiläum:
Vor 50 Jahren traten im September 1973 die Bundesrepublik Deutschland und die DDR den Vereinten Nationen bei. Dieser Schritt, so Scholz, war für Deutschland als „Urheber furchtbarer Kriege und grausamer Verbrechen"(2) mit der Möglichkeit verbunden, zurückzukehren in die Familie friedliebender Völker.
War denn Deutschland auch Urheber des 1. Weltkriegs?
Diese Anfang der 60er Jahre vom ehemaligen NS-Historiker Fritz Fischer in die Welt gesetzte These von Deutschlands „Griff nach der Weltmacht" ist schon lange nicht mehr haltbar. Fischer war von den Alliierten als „gefährlicher Nationalsozialist" auf die Liste jener Personen gesetzt worden, die automatisch zu arretieren seien. Mit seiner Entlassung 1947 erhielt er dann merkwürdigerweise seinen ehemaligen Lehrstuhl in Hamburg zurück. Das macht stutzig, denn einfache Dorfschullehrer durften allein schon wegen ihrer NSDAP-Mitgliedschaft nicht mehr unterrichten.
Am 28. Juni 1919 wurde Deutschland in Versailles ein „Friedensvertrag" aufgezwungen, in dem seine Alleinschuld am Ersten Weltkrieg festgeschrieben war. Dabei hatte die deutsche Reichsregierung um Max von Baden US-Präsident Woodrow Wilson am 3. Oktober 1918 vertrauensvoll um einen Waffenstillstand auf der Grundlage seines friedensfähigen 14-Punkte-Plans(3) gebeten. Dieser sah einen für alle Parteien annehmbaren Friedensschluss vor (Räumung besetzter Gebiete und generelle Neuordnung Europas nach dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker).(4) Um den 14-Punkte-Plan scherte man sich bei den Friedensverhandlungen – von denen Deutschland 1919 ausgeschlossen worden war – aber dann überhaupt nicht mehr. Die Parallele zu Minsk II ist überdeutlich.
Das war nach dem 30jährigen Krieg (1618-1648) anders. Alle Kriegsparteien handelten in Münster und Osnabrück gemeinsam einen tragfähigen Frieden (den „Westfälischen Frieden") aus. Nach den „Napoleonischen Kriegen" (1792 bis 1815) wurde in Wien Frieden geschlossen und der Kriegsgegner Frankreich sogar in die „Heilige Allianz" mit aufgenommen.
Da die Verwerfungslinien, die 1914 in die Katastrophe des 20. Jahrhunderts geführt haben, heute weltweit wieder aufbrechen bzw. aufgebrochen sind, ist es notwendig, den Weg in den Ersten Weltkrieg so wahrhaftig wie möglich aufzuarbeiten.
Bis heute sind jedoch im Westen die Hintergründe der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz-Ferdinand in Sarajevo (28. Juni 1914), die zunächst zum Schlag gegen Serbien (5. Juli 1914, „Mission Hoyos") und nachfolgend zur offiziellen Kriegserklärung führten, nicht aufgeklärt. Es wird nicht einmal darauf hingewiesen, dass die Attentäter aus der serbischen Hauptstadt Belgrad kamen.
Nachdem Serbien das österreichische Ultimatum zurückwies – Grund war die Forderung Österreichs, an den Ermittlungen gegen die Terroristen teilzunehmen – wurde 30 Tage nach dem Attentat am 28. Juli 1914 Serbien der Krieg erklärt.
Zum Vergleich: Nur 27 Tage nach dem Attentat vom 11. September 2001 begannen die USA ihren nicht erklärten Krieg gegen Afghanistan, ein Land, das nachweislich an dem Terroranschlag nicht beteiligt war.
Deutschland erklärte am 1. August 1914 Russland den Krieg, nachdem Russland seine Armee mobilisiert hatte. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. hatte den Zaren Nikolaus II. vorher verzweifelt darum gebeten, die russische Mobilmachung zurückzunehmen. Am 1. August 1914 hatte Russland bereits an der Ostgrenze von Ostpreußen die Armee Rennenkampff und an der Südflanke Ostpreußens die Armee Samsonow in Stellung gebracht. Am 1. August 1914 nahmen beide Armeen ihre Aufklärungstätigkeit in Ostpreußen auf.
In Großbritannien liefen die Kriegsvorbereitungen gegen Deutschland seit der Gründung des Committee of Imperial Defence (CID; auf deutsch: „Ausschuss für imperiale Verteidigung") im Jahr 1904. In diesem Ausschuss wurde in Absprache mit Frankreich die britische Aufstellung eines Expeditionskorps in einer Stärke von 180.000 Mann für Belgien vorbereitet und in der Marineabteilung die umfassende Blockade Deutschlands akribisch ausgearbeitet.(5)
All diese Fakten finden heute in den Geschichtsbüchern und in den Medien keine Erwähnung.
In seiner Rede vom 19. September 2023 warnte Scholz vor einfachen Friedensversprechungen und betonte: „Frieden ohne Freiheit ist Unterdrückung. Frieden ohne Gerechtigkeit ist ein Diktat."(6)
Doch kann, wie der Philosoph Karl Jaspers zutreffend feststellte, Frieden in Freiheit nur auf dem Fundament der Wahrheit erreicht werden.
Deutschland wurde zum Jahrestag des Attentats von Sarajewo, am 28. Juni 1919, im Spiegelsaal von Versailles der fertige Friedensvertrag präsentiert. Diplomatisches Geschick und analytisches Denken hatten hier nicht Pate gestanden, eher unnachgiebige Rachsucht. Dieser Vertrag war zudem ein rückhaltloser Bruch des Waffenstillstandsabkommens. Der Führer der deutschen Delegation in Versailles, Außenminister Graf Brockdorff-Rantzau, verweigerte seine Unterschrift und demissionierte. Und selbst US-Präsident Woodrow Wilson, inzwischen nur noch eine tragische Figur, gestand seinem Kriegsminister Newton Baker, dass er als Deutscher diesen Vertrag nicht unterschrieben hätte: „If I were a German, I think, I should never sign it."(7)
Zeichnung des Zeichners und Schriftstellers Thomas Theodor Heine "Der Friedenskuß" auf dem Titel der Wochenzeitschrift Simplicissimus der Ausgabe 15 vom 8. Juli 1919
Später stellte Winston Churchill zum Ausbruch des 2. Weltkriegs fest:
„Dieser Krieg wäre nie ausgebrochen, wenn wir nicht unter dem Druck der Amerikaner und neumodischer Gedankengänge die Habsburger aus Österreich-Ungarn und die Hohenzollern aus Deutschland vertrieben hätten. Indem wir in diesen Ländern ein Vakuum schufen, gaben wir dem Ungeheuer Hitler die Möglichkeit, aus der Tiefe der Gosse zum leeren Thron zu kriechen."(8)
Wohl in Anspielung auf die kraftvolle Erweiterung der BRICS-Staaten zu BRICS+, die zusammen mit dem globalen Süden eine multipolare Friedensordnung anstreben und die Sanktionen gegen Russland nicht mittragen, behauptete Scholz: „… dass wir, die ganz große Mehrheit der Staaten [aber nicht die Mehrheit der Weltbevölkerung, W.E.], uns in vielem einig sind."(9)Dazu zählen die „drei goldenen universellen Regeln":
-der Verzicht auf Gewalt als Mittel der Politik,
-die Achtung der Souveränität, der territorialen Unversehrtheit und der politischen Unabhängigkeit aller Länder
-und dass wir eben diese Rechte auch anderen zugestehen.
Nur auf der Grundlage dieser Prinzipien lassen sich die globalen Herausforderungen unserer Zeit lösen.(10) In dieser Hinsicht muss man Olaf Scholz tatsächlich zustimmen.
Leider haben die USA seit dem völkerrechtswidrigen Krieg 1999 gegen Restjugoslawien (ohne UN-Mandat) immer wieder gegen alle drei Punkte verstoßen: Farbige Revolutionen, mit denen mehrere Regierungen gestürzt wurden, weitere Kriege ohne UN-Mandat (Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen) usw.
Dass aber diese Forderung nach den drei „goldenen universellen Regeln" von einem Politiker kommt, der bei allen US-Verstößen gegen diese essentiellen Normen geschwiegen hat und auch heute noch schweigt, wird vom Großteil der Weltbevölkerung im günstigsten Fall mit Kopfschütteln wahrgenommen. Vermutlich wird ein großer Glaubwürdigkeitsverlust Deutschlands einsetzen.
Das hat Scholz aber nicht davon abgehalten, die UN-Generalversammlung aufzufordern, über eine Reform des Sicherheitsrates zu entscheiden. Die bisherige Zusammensetzung mit den fünf ständigen Mitgliedern USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien sei überholt.(11)
Bereits 2004 strebten die G-4-Staaten (Brasilien, Deutschland, Indien und Japan) vor dem Hintergrund der geopolitischen Interessen der USA eine Reform des Sicherheitsrats in Bezug auf eine Erweiterung an.(12)
Am 21. September 2011 forderte die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff mehr Demokratie und Gleichheit in der Welt und warb für eine konkrete Reform des Sicherheitsrats. "Die Forderung wird immer dringlicher. Die Welt braucht einen Rat, welcher die zeitgenössische Realität widerspiegelt."
Passiert ist seit 19 Jahren nichts. Nun möchte Scholz, dass bis zur Reform Deutschland als nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats Verantwortung übernimmt, und bat die Versammlung, die deutsche Kandidatur für die Jahre 2027/2028 zu unterstütze.(13) Dagegen sprachen sich jedoch vehement die polnischen Vertreter aus.(14)
In New York kam vom Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, vor allem der bereits bekannte Kriegsgesang. Er hatte schon eine Woche vor der UN-Generalversammlung den Chefredakteur von The Economist wissen lassen, wie sich das Land auf einen langen Krieg vorbereitet.(15) Um die Regierungen „zu überzeugen", und die Ukraine weiter zu unterstützen, sei es nötig – so Selenskyj – „sie über die Medien vor sich her zu treiben"(16); dies sei in puncto Waffenlieferungen stets gut gelungen. Trotz des Ausbleibens eines militärischen Durchbruchs verlangte Selenskyj weitere Unterstützung vom Westen. Andernfalls drohte er mit einer autoritären Transformation der Ukraine und mit Unruhen ukrainischer Flüchtlinge.(17) Sollte der Westen allerdings seine Hilfe für die Ukraine reduzieren, werde das nicht nur den Krieg verlängern, sondern zudem „Risiken für den Westen in seinem eigenen Hinterhof schaffen."(18)
Schließlich würde niemand wissen, wie die Millionen ukrainischer Flüchtlinge in den europäischen Ländern reagieren würden, wenn ihr Land im Stich gelassen werde. Es werde aber keine „gute Sache" für Europa sein, wenn es „diese Leute in eine Ecke" treibe.
„Die kaum verdeckte Drohung, Millionen ukrainischer Flüchtlinge gegen die Regierungen der EU aufzubringen, erfolgt – neben der Ankündigung, die EU vor ein Schiedsgericht der WTO zu bringen – zu einer Zeit, zu der die Ukraine offiziell die Aufnahme in die EU anstrebt und dabei schnelle Fortschritte verlangt."(19)
Olaf Scholz sprach vor einem leeren Saal in der UNO. Ebenso Selenskyi. Doch das ukrainische Fernsehen „füllte" den leeren Saal für Selenskyj mit Aufnahmen von früher, als dieser noch voll besetzt war – und bemerkte nicht, dass Selenskyj bei sec. 15 selbst im Publikum sitzt. Es sah dann so aus, als würde er seiner eigenen Rede zuhören.(20)
Der iranische Präsident Ebrahim Raisolsadati, im Volksmund und international bekannt als Ebrahim Raisi, verwies auf eine neu entstehende geopolitische Ordnung. Die Versuche der Vereinigten Staaten, der Welt ihre Regeln aufzuzwingen, seien gescheitert.
Der Westen inszeniere Staatsstreiche und Stellvertreterkriege. Die Schwellenländer sind dabei, eine regionale Zusammenarbeit zu etablieren, wobei die Regionen auf der Grundlage von Gerechtigkeit mit der Weltgemeinschaft interagieren.
Ausländische Mächte sollten in der Region – vom Kaukasus bis hinunter zum Persischen Golf – nicht intervenieren. Sie seien nicht Teil der Lösung, sondern der Kern des Problems selbst.
Zum Ukraine-Krieg verwies Raisi auf die Haltung des Irans: "Wir unterstützen nirgends einen Krieg, weder in Europa noch anderswo."(21) Nachdem die USA im 1. Golfkrieg (1980-1988) den Irak gegen den Iran unterstützt hat, werden die Handlungen der USA seither genauer unter die Lupe genommen. So ist Raisi überzeugt, dass die Vereinigten Staaten den Krieg angeheizt haben, um Europa zu schwächen. Der Iran, so Raisi, unterstütze alle Friedensinitiativen.
Er verurteilte die Vereinigten Staaten für ihre "ungeheuerlichen Verbrechen", u.a. den Rückzug aus dem als JCPOA(22) bekannten Mehrparteien-Nuklearabkommen und die Verhängung drakonischer Sanktionen gegen den Iran".(23)
In der Tat scheint sich die Welt nach über 500 Jahren Kolonialismus im epochalen Wandel zu befinden. Die jüngste Erweiterung der BRICS im August 2023 in Johannesburg – zum 1. Januar 2024 kommen 6 neue Länder, darunter der Iran, hinzu und über 30 stehen Schlange – zeigt, mit welch atemberaubendem Tempo sich die Länder des globalen Südens unter dem Schirm einer multipolaren Friedensordnung zusammenfinden. Noch ist die Gefahr der Spaltung der Welt in zwei feindlich gegenüberstehenden Blöcken – unipolar (USA/EU/NATO) versus multipolar (globaler Süden) – nicht gebannt.
UN-Sicherheitsrat 20. September 2023
Als letzter Redner in der rund dreistündigen Sitzung des UN-Sicherheitsrats sprach Bundeskanzler Olaf Scholz. Sowohl Präsident Selenskyj als auch der russische Außenminister Lawrow waren zu diesem Zeitpunkt im Forum nicht mehr anwesend.(24)
In seiner ersten Rede im UN-Sicherheitsrat wiederholte Scholz das westliche Mantra vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und attackierte die russische Führung scharf: „Russische Truppen haben gemordet, vergewaltigt und gefoltert."(25) Der Grund? Erschütternd einfach, so Scholz: „Russlands Präsident will seinen imperialistischen Plan zur Eroberung seines souveränen Nachbarn, der Ukraine, umsetzen."(26)
Scholz genierte sich nicht, zu behaupten, Deutschland und Frankreich hätten in den Jahren vor dem 24. Februar 2022 hunderte (!) diplomatische Versuche zur Lösung der Krise unternommen.Auf die massive Steigerung der Beschießung der Städte des östlichen Donbass ab 17. Februar 2022 durch das ukrainische Militär – ein offener Bruch des Waffenstillstands – folgte die russische Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk und im Rahmen des militärischen Beistands für diese der Angriffsbefehl am 24. Februar 2022. Kiew führt Krieg gegen die eigene Bevölkerung im Osten des Landes seit dem 2. Mai 2014. Bis zum 24. Februar 2022 waren annähernd 15.000 Opfer zu beklagen, was für die westlichen Medien kein Thema war.
Mit den verstärkten Artillerieüberfällen auf die separatistischen Gebiete war klar, dass das zweite Minsker Abkommen endgültig Makulatur war. Im März 2021 hatte Präsident Selenskyj die "Ent-Besetzung" der Krim bereits zum militärischen Ziel erklärt. "Minsk II" – ein UN-Dokument (UNSC 2022/2015) – diente auch nach Aussage von Angela Merkel (im Interview mit der "Zeit" vom 7. Dezember 2022) nur dem einen Zweck, der Ukraine für die Aufrüstung Luft zu verschaffen, was später auch von Francois Hollande, französischer Präsident zwischen 2012 und 2017, bekräftigt wurde: „Das Minsker-Abkommen war nur eine Täuschung, um der Ukraine mehr Zeit zu verschaffen, sich auf den Krieg mit Russland vorzubereiten."(27)
Mit seiner Behauptung 100facher von Deutschland und Frankreich ausgehender diplomatischer Konfliktlösungsversuche hat Kanzler Scholz sich jede Möglichkeit auf Gespräche mit der anderen Kriegspartei verbaut – völlig unabhängig davon, ob mit Putin oder dessen Nachfolger.
„Wir alle wollen, dass das Töten aufhört"(28) – diese Aussage von Scholz muss vor dem Hintergrund der sich steigernden Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine äußerst fragwürdig erscheinen. Dadurch wird der Krieg nur noch weiter eskalieren. Am Ende droht die Gefahr, dass ganz Europa mit in das Inferno hineingezogen wird.
Vor Scholz hatten Wolodymyr Selenskyj und Sergej Lawrow im Sicherheitsrat gesprochen. Selenskyj warf Russland in seiner Rede "Völkermord" vor. Außerdem kritisierte er das Veto-Recht Russlands im Sicherheitsrat: Dies habe die UN an einen toten Punkt geführt. Eine Reform der Regelung sei dringend nötig, forderte Selenskyj.(29)
Der „tote Punkt" wurde jedoch bereits am 24. März 1999 erreicht, als die Vetomacht USA völkerrechtswidrig Restjugoslawien angriff.
Außenminister Lawrow beschuldigte den Westen, allen voran die USA, die Vereinten Nationen für ihre Ziele zu missbrauchen. Er warf dem Westen einen „Überlegenheitskomplex" vor. Tatsächlich hatten die USA in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie vom 27. Oktober 2022 als oberste Ziele festgelegt:
- Abbau der wachsenden multidisziplinären Bedrohung durch China und
- Abschreckung der von Russland ausgehenden Herausforderung in Europa
Erreicht werden sollte das über
- integrierte Abschreckung,
- Kampagnenführung und den
- Aufbau eines dauerhaften Vorteils.
Weiter beklagte sich Lawrow auch über Frankreich und Deutschland, die das Minsk-Abkommen vernachlässigt hätten.(30) Da hat sich der russische Außenminister noch sehr in diplomatischer Zurückhaltung geübt.
Bei der Generaldebatte der UN-Vollversammlung am 23. September 2023 betonte Lawrow, dass sein Land kein Interesse an einem großen Krieg habe: „Es liegt ganz bei uns, wie sich die Geschichte entwickeln wird. Es liegt in unserem gemeinsamen Interesse, eine Abwärtsspirale in einen groß angelegten Krieg und den endgültigen Zusammenbruch der Mechanismen der internationalen Zusammenarbeit zu verhindern".(31)
Den USA haben die beiden Weltkriege nur Wohlstand und die führende Stellung in der Welt eingebracht. Vor diesem Hintergrund sind die Äußerungen von 3-Sterne-General Keith Kellogg am 28. Februar 2023 bei der Anhörung zum Ukrainekrieg vor dem US-Senat erschreckend.
Der General schwärmte dem Senator vor:
„Wenn man einen strategischen Gegner besiegen kann und dabei keine US-Truppen einsetzt, ist man auf dem Gipfel der Professionalität, denn wenn man die Ukrainer siegen lässt, ist ein strategischer Gegner vom Tisch und wir können uns auf das konzentrieren, was wir gegen unseren Hauptgegner tun sollten, und das ist im Moment China….und wenn wir dabei scheitern, müssen wir vielleicht einen weiteren europäischen Krieg führen, das wäre dann das dritte Mal"(32)
Russland, das im Zweiten Weltkrieg an die 27 Millionen Opfer zu beklagen hatte – zum Vergleich: USA 405.000(33) – dürfte in der Tat kein Interesse an einem großen Krieg haben.
In den USA fielen keine Bomben, während die Regionen bis zur Linie Leningrad (St. Petersburg) – Moskau – Stalingrad (Wolgograd) weitgehend verheert waren.
Heute floriert das Leben in Russland (ähnlich wie 1914 in Deutschland), soweit sich der Verfasser dieses Artikels auf seiner Russlandreise (11.-20. September 2023) in Kaliningrad (ehemals Königsberg) und in Jekatarinburg (ehemals Swerdlowsk) überzeugen konnte. Das flächengrößte Land der Welt prosperiert, der Ukraine-Krieg und die westlichen Sanktionen sind in keiner Weise zu spüren.
Zu spüren sind jedoch immer noch die Schatten des Zweiten Weltkriegs.
Am Ende der weitläufigen Anlage erhebt sich ein Hügel, auf dem ein monumentaler Sowjetsoldat steht. Dieser Soldat hält im linken Arm ein aus dem Feuer gerettetes Kind (angeblich eine wahre Geschichte), während er mit dem Säbel in der rechten Hand das Hakenkreuz zerschlägt.
Seitlich wird er Raum von Stelen gesäumt, die in Reliefs das Leid dieses Krieges darstellen. An der Stirnseite dieser Stelen finden sich markante Worte Stalins:
„Die Hitlerischen Schurken haben es sich zum Ziel gesetzt, die Bevölkerung der Ukraine, Bjelorussland, des Baltikums der Moldau, der Krim und des Kaukasus zu versklaven oder auszurotten. Unser Ziel ist klar und edel: Wir wollen unseren Sowjetboden befreien"
In dem Massengrab von Treptow liegen die gefallenen Ukrainer, Weißrussen, Russen, Balten usw. vereint. Der Krieg in der Ukraine ist an Tragik kaum zu überbieten.
Im 1. Weltkrieg fanden sich Ukrainer auf beiden Seiten der Kriegsparteien wieder. Der westliche Teil der Ukraine (Galizien) war bei der schrittweisen Aufteilung des polnisch-litauischen Staatsgebiets in den Jahren 1772 bis 1795 an das Kaisertum Österreich gefallen, während der östliche Teil bei Russland blieb. Im Zweiten Weltkrieg kämpften die nationalen Kräfte auf der Seite Hitlerdeutschlands. 1943 wurde die 14. Waffen-Grenadier-Division der SS aus ukrainischen Freiwilligen aufgestellt; sie erhielt zunächst den Beinamen „galizische Nr. 1" und erreichte eine Stärke von 22.000 Mann. Bei Kriegsende trug sie die etwas verwirrende Bezeichnung "1. Ukrainische Division der Ukrainischen National-Armee"(34).
Ukrainisches Werbeplakat aus dem Jahr 1943(35)
Als 1932 Stepan Bandera erstmals stellvertretender Landesleiter der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) wurde, avancierte Jaroslaw Stetzko zum Stellvertreter des politisch-ideologischen Referenten.
Eine Woche nach dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion verfasste Stetzko die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine und wurde am 30. Juni 1941 in Lemberg zum Präsidenten der Ukraine ausgerufen.
Es begann eine Welle antisemitischer Pogrome, in denen tausende Juden massakriert wurden, und Stetzko versicherte in Briefen an Adolf Hitler, Benito Mussolini, Francisco Franco und Ante Pavelić, dass sein neuer Staat ein Teil von Hitlers Neuer Ordnung in Europa sei.(36)
Nach dem Krieg bauten Bandera und Stetzko in München zusätzlich zur Exil-OUN den "Antibolschewistischen Block der Nationen" (ABN) auf, ein Bündnis aus rund eineinhalb Dutzend nationalen Verbänden im bundesdeutschen Exil ansässiger NS-Kollaborateure.
Der ABN hatte beste Beziehungen. 1983 brachte ein ABN-Blatt ein Foto auf der Titelseite, das OUN-Chef Stetzko im Handschlag mit US-Präsident Ronald Reagan zeigt. Darüber das Reagan-Zitat: „Ihr Kampf ist unser Kampf. Ihr Traum ist unser Traum."(37)
Wiktor Andrijowytsch Juschtschenko, von Dezember 1999 bis Mai 2001 ukrainischer Ministerpräsident und im Westen ab 2004 als Demokrat der Orangen Revolution bekannt, erklärte dann als Präsident der Ukraine (2005 bis 2010) den NS-Kollaborateur
und für tausendfachen Mord an Polen und Juden verantwortlichen Stepan Bandera zum Nationalhelden. 2010 ließ Juschtschenko in München eine Ehrentafel anbringen: „Hier lebten und wirkten die Eheleute Jaroslaw und Jaroslawa Stetzko für die Freiheit der Ukraine. Wir gedenken Ihrer hervorragenden Leistungen. Präsident der Ukraine".
Bei dieser Vorgeschichte wundert es auch kaum noch, dass es am 22. September 2023 stehende Ovationen im kanadischen Parlament für den anwesenden 98-jährigen ukrainischen Immigranten Jaroslaw Hunka gab, der als Mitglied der (galizischen) Waffen-SS im 2. WK gegen Russland gekämpft hatte.(38) Der Präsident des kanadischen Unterhauses, Anthony Rota nannte Hunka einen "ukrainisch-kanadischen Kriegsveteranen", der für die Unabhängigkeit der Ukraine gegen Russland gekämpft habe.
Radikale nationalistische Kräfte werden eben immer gern für geopolitische Ziele instrumentalisiert.
Der ukrainsche Präsident Volodymyr Zelenskyi und Kanadas Premierminister Justin Trudeau würdigen Yaroslav Hunka, der im Zweiten Weltkrieg in der Ersten Ukrainischen Division kämpfte und später nach Kanada einwanderte, im Unterhaus auf dem Parlament Hill in Ottawa am Freitag, 22. September 2023.
Anfang der 90er Jahre leiteten aus Südamerika zurückgekehrte kroatische Ustascha-Nationalsozialisten durch Terroraktionen die Zerstörung Jugoslawiens ein, in dem damals die Serben dominierten. Seit der orangenen Revolution 2004 in der Ukraine betreiben nun aus Kanada zurückgekehrte Ukro-Nationalsozialisten aktiv die Angliederung der Ukraine, die im Osten vor allem russischsprachig ist, an die NATO.
Nach heftiger Kritik an seiner Würdigung eines ehemaligen Soldaten der Waffen-SS ist Anthony Rota nun zurückgetreten. „Die Arbeit des Parlaments ist wichtiger als jeder von uns. Deshalb muss ich als Parlamentspräsident zurücktreten", sagte er im Unterhaus in Ottawa. Zuvor hatten bereits zahlreiche Abgeordnete und Regierungsmitglieder den Rücktritt von Rota gefordert. „Was geschehen ist, ist inakzeptabel. Es war peinlich für das Unterhaus und die Kanadier"(39), sagte Außenministerin Melanie Joly. War Rota wirklich so ahnungslos oder hatte er gehofft, dass es niemandem auffällt?
Zurück zum Ukrainekrieg. Bisher schien es so, dass dieser Stellvertreterkrieg in einem militärischen Patt steckenbleibt.
Noch während des Besuchs von Selenskyi auf dem Capitol Hill anlässlich der UN-Generalversammlung hatte Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan den Reportern verkündet, dass der Präsident in Sachen Entsendung der ballistischen Kurzstreckenrakete aus US-amerikanischer Produktion (ATACMS) nach Kiew noch keine Entscheidung getroffen habe und die Rakete bisher mit der Begründung zurückgehalten wurde, sie würden zu einer russischen Eskalation des Krieges führen.
Bei dem erfolgreichen Angriff eines vermutlich britischen Marschflugkörpers vom britischen Storm Shadow wurde am Freitag, den 22. September 2023, in Sewastopol das historische Hauptgebäude der russischen Marine schwer getroffen.
Dieser Erfolg scheint die Regierung Biden nun doch zu einer Kehrtwende in der Frage der Entsendung der ATACMS bewogen zu haben. Angesichts der drohenden Niederlage scheinen die US-Strategen alle Vorsicht über Bord zu werfen und den Ausbruch eines direkten Krieges zwischen Russland und der NATO zu riskieren.(40)
Die Gefahr einer gesamteuropäischen Eskalation steigt weiter mit der Wahrscheinlichkeit der westlichen Lieferung von nuklearfähigen F-35-Bombern sowie Taurus-Marschflugkörpern. Der Eindruck verdichtet sich, dass führende Kräfte im Westen an einer solchen Eskalation interessiert sind, denn wie wir aus den beiden Weltkriegen wissen, gibt es immer Profiteure einer solchen Katastrophe.
Die Zeit drängt. Wenn die Welt nicht bald zu einer neuen internationalen Sicherheitsarchitektur findet, könnte es, zumindest für Europa, zu spät sein.
Die Vereinten Nationen scheinen nicht mehr in der Lage zu sein, die UN-Charta umzusetzen, in deren Präambel ausdrücklich das Ziel formuliert wird, die Welt von der Geißel des Krieges zu befreien.
Noch hat der von den USA geführte "Globale Norden" die Möglichkeit, sich als gleichberechtigter Partner in das multipolare Friedensprojekt des Globalen Südens einzubringen – denn auf lange Sicht wird die Einführung einer gerechten neuen Weltwirtschaftsordnung nicht unterdrückt werden können!
Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, erhielt als Pionierhauptmann bei der Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete „atomare Gefechtsfeld" in Europa. Nach zwölfjähriger Dienstzeit studierte er in München Politikwissenschaft sowie Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Seitdem publiziert er zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik. Zuletzt erschienen vom ihm
Quellen und Anmerkungen
1) https://gadebate.un.org/sites/default/files/gastatements/%5Bvariable%3Acurrent_session%5D/de_fl.pdf
3) https://www.dbwv.de/aktuelle-themen/blickpunkt/beitrag/erster-weltkrieg-als-der-irrsinn-endete
4) https://www.dhm.de/lemo/kapitel/erster-weltkrieg/kriegsverlauf/14-punkte-programm.html
5) Siehe Wolfgang Effenberger: Europas Verhängnis 14/18, Teil 1 Die Herren des Geldes greifen zur Weltmacht Teil 2 Kritische angloamerikanische Stimmen zur Geschichte des Ersten Weltkriegs und Teil 3 Revolution Rätewirren und Versailles
6) https://www.bundeskanzler.de/bk-de/aktuelles/kanzler-bei-vereinten-nationen-2223380
7) Zitiert aus Barry, John M.: The great influenza: the epic story of the deadliest plague in history, S. 387
8) zitiert aus Puntsch, Das neue Zitatenhandbuch, S. 824
12) Wolfgang Effenberger hielt am 17. Mai 2013 in der juristischen Fakultät der Bundesuniversität Rio de Janeiro anlässlich eines bilateralen Seminars zum Thema Völkerrecht und Menschenrechte den Vortrag „Der Reformvorschlag der G-4-Staaten (Brasilien, Deutschland, Indien und Japan) in Bezug auf eine Erweiterung des Sicherheitsrats vor dem Hintergrund der geopolitischen Interessen der USA" unter https://www.zeitgeist-online.de/exklusivonline/9-allgemeines/sonstiges/967-der-reformvorschlag-der-g-4-staaten-brasilien-deutschland-indien-und-japan-in-bezug-auf-eine-erweiterung-des-sicherheitsrats-vor-dem-hintergrund-der-geopolitischen-interessen-der-usa.html
13) https://germania.diplo.de/ru-de/aktuelles/-/2617758
16) https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9343
17) https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9343
18) Ebda.
19) Ebda.
20) Alina Lipp „Neues aus Russland" 20. September 2023
22) Am 14. Juli 2015 unterschrieben die E3 (Deutschland, Frankreich, Großbritannien) +3 (USA , Russland, China) und Iran in Wien das Atom-Abkommen.
24) https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/un-sichereitsrat-selenskyj-lawrow-100.html
25) Rede von Scholz im Sicherheitsrat https://www.youtube.com/watch?v=QS9FR_iRD8g
26) Rede von Scholz im Sicherheitsrat https://www.youtube.com/watch?v=QS9FR_iRD8g
28) https://www.bundeskanzler.de/bk-de/aktuelles/kanzler-bei-vereinten-nationen-2223380
30) https://taz.de/UN-Sicherheitsrat-zum-Ukrainekrieg/!5961630/
32) https://www.youtube.com/watch?v=tmmPHvlbdwI
34) https://akhinterland.wordpress.com/rechtliches_14waffen-ss/
35) Deutsches Bundesarchiv, online: http://www.bild.bundesarchiv.de, Signatur Plak 003-025-052.
36) Per Anders Rudling: Eugenics and racial anthropology in the Ukrainian radical nationalist tradition. In: Science in Context 32 (2019), S. 67–91.
37) Jörg Kronauer/Johannes Hartwig: Huldigung des Faschismus
https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/83/huldigung-des-faschismus/