Afrika emanzipiert sich - Klare Absage an die Regelbasierte Ordnung
Wolfgang Effenberger
Am zweitägigen (27./28. Juli 2023) Russland-Afrika-Gipfel in Sankt Petersburg hatten 49 afrikanische Staaten ihre Teilnahme zugesagt hätten. Aus 17 Ländern reisten die Staats- und Regierungschefs persönlich an. Das waren deutlich weniger als beim ersten Gipfel 2019. Ursache dafür könnte die Revolte in Niger und die drohende Intervention des prowestlichen Staatenbunds ECOWAS sein. Absagen gab es aus Nigeria (Nigerias Präsident Bola Tinubu ist derzeit Vorsitzender von ECOWAS), Kenia, der "Demokratischen Republik Kongo", Ruanda und Sambia. Dabei waren neben Südafrika unter anderem Ägypten, Äthiopien, Mali, Senegal, Simbabwe und Uganda vertreten.(1) Zur Überraschung nahm auch Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin teil.(2)
Am 28. Juli wurde von Staats- und Regierungschefs der Russischen Föderation und der von den Vereinten Nationen (VN) anerkannten afrikanischen Staaten sowie Vertretern der Afrikanischen Union und der führenden Integrationsorganisationen Afrikas eine Erklärung abgegeben. Darin wurden die in der Erklärung des ersten Russland-Afrika-Gipfeltreffens (Sotschi, 24. Oktober 2019) formulierten Grundsätze und Ziele bekräftigt.
In der Erklärung wird eingangs hervorgehoben, dass die historischen und bewährten freundschaftlichen Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und den afrikanischen Staaten weiterentwickelt werden sollen. Bei gegenseitiger vertrauensvoller Achtung sowie der Tradition des gemeinsamen Kampfes für die Beseitigung des Kolonialismus und die Herstellung der Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten wird die wachsende Bedeutung der afrikanischen Staaten und der Afrikanischen Union als führende kontinentale Organisation in internationalen Angelegenheiten begrüßt. Sie spiegelt die zunehmende globale Rolle und den wachsenden Einfluss Afrikas als wesentlicher Pfeiler der multipolaren Welt wider und bekräftigt die Notwendigkeit, sich gemeinsam gegen Neokolonialismus und doppelte Standards zu wenden. Den Staaten darf nicht das Recht genommen nehmen, souverän über ihre Entwicklungswege zu entscheiden. Es folgt das Bekenntnis zu den Grundprinzipien und Zielen der Charta der Vereinten Nationen, die sich dem Schutz und der Wahrung des Völkerrechts verschrieben haben, und die Betonung der Notwendigkeit, dass sich alle Staaten daran halten.
Dieser Abschnitt richtet sich diplomatisch geschickt gegen die seit Jahrzehnten von den USA gehandhabten Praktiken. Seit ihrem Bestehen intervenierten die USA 219 mal(3) militärisch in anderen Ländern. Regierungsputsche, die Ermordung politischer Führer, bunte Revolutionen, geheimdienstliche Operationen und seit 1991 hybride Kriege sind die Ausdrucksformen dieser im imperialistischen Politik nach den Vorgaben von "Operations Other Than War" (OOTW). Seit dem Angriff auf die Weltmacht Spanien 1898 in Cuba und auf den Philippinen scheinen sich die Vereinigten Staaten nach innen und außen in einen permanenten Kriegszustand zu befinden. Sind sie nun dabei, diesen permanenten Kriegszustand auf Afrika und Europa auszudehnen? Nach dem Studium des Strategiedokuments TRADOC 525-3-1 "Win in a Complex Word 2020-2040" vom September 2014 muss man diese Frage leider mit ja beantworten.
In ihrem Dokument vom 28. Juli 2023 bekräftigen die Russische Föderation und die 17 afrikanischen Staaten ihre „gemeinsame Verantwortung für die Gestaltung einer gerechten und stabilen Weltordnung, die auf den Grundsätzen der souveränen Gleichheit der Staaten, der Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten, der Achtung der Souveränität, der territorialen Unversehrtheit und des Rechts aller Völker auf Selbstbestimmung beruht, wie sie unter anderem in der Resolution 1514 (XV) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 14. Dezember 1960 festgelegt sind, sowie auf der Notwendigkeit, die nationale Identität und die nationalen Ressourcen, die kulturelle und zivilisatorische Vielfalt zu bewahren und die traditionellen Werte zu schützen."(4)
Die zentrale Rolle souveräner Staaten bei der Entscheidungsfindung zur der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit soll bei gleichzeitiger Achtung der Vielfalt der Wertesysteme von Staaten und Nationen in multilateralen Gremien Anerkennung finden.
Nicht anderes wird auch in der "Charta der Vereinten Nationen" (United Nations Organisation, UNO) gefordert, die 1945 von damals 51 Staaten zum Zweck der globalen Friedenssicherung gegründet wurde. In der Präambel heißt es:
„Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter von der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit […] erneut zu bekräftigen […] und für diese Zwecke […] unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren […] – haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken."(5)
Schon 150 Jahre zuvor, 1795, hatte der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) seine Schrift "Zum ewigen Frieden" veröffentlicht, in der er die Idee einer institutionellen Friedenssicherung ausarbeitete. Kants Argumente sind universalistisch und an keine bestimmte historische Situation oder geographische Konstellation gebunden: sie gelten allgemein und global. Kants Entwurf war keine Friedensutopie(6), sondern eine realistische und zu realisierende Aufgabe für die Menschheit, deren Pfeiler Volkssouveränität, freiheitlichen Charakter und Rechtsstaatlichkeit sein sollten. Das alles ist nach Kant nur unter souveränen Staaten möglich. Bei einer Weltregierung schließt er wegen der fast zwangsläufigen Usurpation durch eine Clique jede Rechtstaatlichkeit aus.
Bereits 1874 plädierte Kant in seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" für einen Völkerbund. 1945 wurden seine Ideen zum Fundament für die UN-Charta(7), die mit dem völkerrechtswidrigen US-Angriff der USA 1999 auf Restjugoslawien ausgehebelt wurde. Seither gilt wieder das Faustrecht. So wundert es nicht, dass die Schrift "Zum ewigen Frieden" aufgrund ihrer Aktualität wieder in den Fokus der Diskussion gerückt ist.
In der 14-seitigen Erklärung des zweiten Russland-Afrika-Gipfels (Declaration of the Second Russia–Africa Summit)(8) mit seinen 74 Unterpunkten wird das Bestreben der afrikanischen Staaten betont, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in ihrer Resolution 70/1 vom 25. September 2015 angenommene Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung weiter zu unterstützen und die Entschlossenheit der Russischen Föderation begrüßt, den afrikanischen Staaten mit der Bereitstellung von Nahrungsmitteln, Düngemitteln und Energieressourcen Hilfe zu leisten und gegen aggressiven Nationalismus, Neonazismus, Neofaschismus, Afrophobie, Russophobie, alle Formen von Rassismus und Rassendiskriminierung sowie Diskriminierung aus Gründen der Religion, der Weltanschauung oder der Herkunft, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängende Intoleranz, insbesondere, aber nicht ausschließlich, gegen Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende, vorzugehen.
Ein klares Ja zur UN-Charta und zum Völkerrecht
In einer für beide Seiten vorteilhaften Zusammenarbeit zwischen der Russischen Föderation und den afrikanischen Staatensoll eine gerechtere, ausgewogenere und stabilere multipolare Weltordnung geschaffen werden, wobei jede Art von internationaler Konfrontation auf dem afrikanischen Kontinent entschieden abgelehnt wird. Weiter soll ein Beitrag zur weiteren Förderung der zentralen koordinierenden Rolle der Vereinten Nationen als wichtigster globaler multilateraler Mechanismus zur Abstimmung der Interessen der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen und ihrer Maßnahmen zur Erreichung der Ziele der UN-Charta sowie zur Gewährleistung der Achtung der darin verankerten allgemein anerkannten Grundsätze und Normen des Völkerrechts geleistet werden.
Wegen ihrer Bedeutung werden die Unterpunkte 17-21 direkt zitiert:
17. Einhaltung der Grundsätze des Völkerrechts, wie sie in der Charta der Vereinten Nationen und in der am 24. Oktober 1970 angenommenen Erklärung über die Grundsätze des Völkerrechts betreffend die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen zum Ausdruck kommen.
18. Konsolidierung der Bemühungen der Russischen Föderation und der afrikanischen Staaten, die sich für die Wiederherstellung der allgemeinen Achtung des Völkerrechts und die Stärkung seiner Rolle als Grundlage der internationalen Beziehungen einsetzen. Widerstand gegen Versuche, die Grundsätze des Völkerrechts zu ersetzen, zu revidieren oder willkürlich auszulegen.
19. Ablehnung von Initiativen und Konzepten, die darauf abzielen, Alternativen zum Völkerrecht zu schaffen; Zusammenarbeit zur Förderung einer stabilen und gerechten internationalen Ordnung auf der Grundlage der allgemein anerkannten Grundsätze und Normen des Völkerrechts, die in der UN-Charta verankert sind.
20. [Wir]Sind der festen Überzeugung, dass der Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten für die Stabilität der internationalen Beziehungen von entscheidender Bedeutung ist.
21. Wahrung aller Grundsätze der UN-Charta, einschließlich Artikel 2 und Artikel 51.
Im Zusammenhang mit der Überwindung der Folgen von Kolonialismus, Sklaverei, Sklavenhandel, einschließlich des transatlantischen Sklavenhandels, die als entsetzliche Tragödie in der Geschichte der Menschheit anerkannt wurden, soll gegen die Entmenschlichung ganzer Nationen, auch im medialen Umfeld, gegen die Abschaffung der Kultur im Hinblick auf ihr zivilisatorisches Erbe sowie gegen jede Art von kultureller Aneignung, einschließlich des Verbots des Gebrauchs der Muttersprache vorgegangen werden.
Einigkeit besteht darüber, dass die WTO reformiert werden muss, um ein offenes, transparentes, integratives und nichtdiskriminierendes Welthandelssystem zu gewährleisten und gleichzeitig die Grundprinzipien der WTO, einschließlich der besonderen und differenzierten Behandlung der Entwicklungsländer und der am wenigsten entwickelten Länder, zu bewahren. Der Reformprozess sollte integrativ, transparent und von den Mitgliedern getragen sein.
Die letzten beiden Punkte (73/74) sind dem Klimawandel gewidmet. Jedem Staat soll das Recht anerkannt werden, seine eigenen besten Mechanismen und Mittel für den Schutz und die Bewirtschaftung der Umwelt, die Anpassung an den Klimawandel und die Sicherstellung einer gerechten Energiewende im Einklang mit den nationalen Gegebenheiten und Kapazitäten zu wählen.
Dazu soll der Ausbau der Zusammenarbeit bei gemeinsamen Projekten zum Umweltschutz und zur nachhaltigen Entwicklung angestrebt werden, einschließlich der Verringerung der Treibhausgasemissionen, der Entwicklung emissionsarmer Energien und der Unterstützung der Entwicklung einer Kreislaufwirtschaft.
Unabhängig von den Motiven der Russischen Föderation in der Zusammenarbeit mit Afrika scheint dieses Papier durchaus die Grundlage zu sein, auf der sich auch der Westen Afrika in Augenhöhe nähern müsste.
Somit stellt der Afrika-Gipfel vom 27. / 28. Juli 2023 eine große Herausforderung für den Westen dar, der instinktiv versuchte, die Veranstaltung herunterzuspielen, nachdem es ihm nicht gelungen war, souveräne afrikanische Nationen von einem Treffen mit der russischen Führung abzuhalten. 49 afrikanische Länder hatten ihre Delegationen nach St. Petersburg entsandt, und siebzehn Staatschefs waren persönlich nach Russland gereist, um politische, humanitäre und wirtschaftliche Fragen zu erörtern. Für das Gastgeberland, das sich mitten im Krieg befindet, war dies ein bemerkenswerter diplomatischer Erfolg.
Im Gegensatz zu Frankreich, Großbritannien und den USA hat Russland keine kolonialen Spuren in Afrika hinterlassen; es darf sich durchaus auf das sowjetische Erbe berufen, in Afrika auf der "richtigen Seite der Geschichte" zu stehen – und lässt sogar den vollen Namen der Russischen Universität der Völkerfreundschaft von Patrice Lumumba, dem vom Westen 1960 ermordeten kongolesischen Premierminister, in Moskau wieder aufleben. Am 11 Juni 1960, 12 Tage nach den Unabhängigkeitsfeiern von Belgien, wurde die kupfereiche Provinz Katanga von belgischen Fallschirmjägern für losgelöst erklärt. Lumumba wandte sich an die Vereinten Nationen, die überall im Kongo UN-Soldaten stationierten, nur nicht in Katanga. Im August 1960 drängten die Westmächte Armeechef Joseph Mobutu zum Putsch. Der CIA-Chef von Leopoldville, Larry Devlin, bestätigte: „Präsident Eisenhower deutete auf die eine oder andere Weise an, ´lasst uns diesen Mann loswerden´."(9) Erst Anfang 2002 entschuldigte sich die belgische Regierung für die Verwicklung Belgiens in den Mord am ehemaligen kongolesischen Premierminister Patrice Lumumba.(10)
Wechselnde Konflikte und blutige Bürgerkriege lassen die Republik Kongo nicht mehr zur Ruhe kommen. 2023 sind über fünf Millionen Menschen innerhalb des Landes auf der Flucht. Das sind so viele wie in keinem anderen afrikanischen Land. Die Demokratische Republik Kongo gehört trotz wertvoller Rohstoffe zu den ärmsten Ländern der Welt.(11)
Vor diesem Hintergrund hat Russland leichtes Spiel, als langjähriger Unterstützer der Afrikaner aufzutreten, die sich dem Imperialismus und dem räuberischen Charakter des westlichen Neokolonialismus widersetzen. Das russisch-afrikanische Bekenntnis zum Völkerrecht und zur Atlantik-Charta richtet sich vor allem auch gegen die vom Westen propagierte und von ihm definierte „regelbasierte Ordnung",(12) die das Völkerrecht zugunsten westlicher Interessen ersetzen soll. Am 28. Juli sagte Putin auf einer Plenarsitzung des 2. Russland-Afrika-Forums: „Es ist überhaupt unklar, was es für Regeln sind und für wen sie geschaffen wurden. Es ist klar, dass sie von einzelnen Ländern für ihre eigennützigen Interessen genutzt werden und sich je nach politischer Konjunktur ändern".(13) Außenminister Lawrow fügte am 15. August auf der XI. Moskauer Konferenz für internationale Sicherheit hinzu: „… sie versuchen, diese Regeln zu ihren Gunsten zu nutzen, wenn dies ihren Interessen im Bereich Welthandel, Weltfinanzsystem, bei Verpflichtungen in internationaler Sicherheit und in vielen anderen Bereichen der zwischenstaatlichen Kommunikation entspricht. Es ist eine Tendenz zu erkennen, dass die westliche Minderheit beharrlich versucht, die Sekretariate internationaler Organisationen wie UNO, Bretton-Woods-Institutionen, WTO, OPCW zu privatisieren. Wir beobachten so was auch in der Tätigkeit internationaler Sportorganisationen"(14). Auf der Moskauer Konferenz für Internationale Sicherheit betonte Präsident Putin die Notwendigkeit der multipolaren Welt und plädierte erneut für die Schaffung einer internationalen Sicherheitsarchitektur basierend auf demokratischen internationalen Beziehungen und auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen.(15)
Zuletzt erschienen vom ihm
- „Schwarzbuch EU & NATO" (2020) sowie
- "Die unterschätzte Macht" (2022)
Quellen und Anmerkungen
1) https://taz.de/Suedafrika-beim-Russland-Afrika-Gipfel/!5946595/
3) 219 US Kriege Seit Ihrer Gründung Im Vergleich China, Russland & Iran.
4) Erklärung des zweiten Russland-Afrika-Gipfels
28. Juli 2023 unter http://en.kremlin.ru/supplement/5972
5) https://unric.org/de/charta/
6) wie sie etwa Erasmus von Rotterdam (1466-1536) in seinem Werk „Querela pacis" (1517) entwickelte.
7) Thomas Domjahn (Author), 2004, Immanuel Kant: Vordenker der Vereinten Nationen? Eine kritische Würdigung der Schrift 'Zum ewigen Frieden', Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109545
8) http://en.kremlin.ru/supplement/5972
9) Vgl. Witte, Ludo de: Regierungsauftrag Mord. Der Tod Lumunbas und die Kongokrise, Leipzig 2001
10) Süddeutsche Zeitung vom 7. Februar 2002
11) https://www.caritas-international.de/hilfeweltweit/afrika/kongo/politische-humanitaere-lage
12) https://seniora.org/politik-wirtschaft/niger-lehnt-auf-regeln-basierende-ordnung-ab
14) Ebda.
15) https://www.extremnews.com/nachrichten/weltgeschehen/2dfd1936f6e9210?source=feed