Der Nahost / Mittelost-Konflikt - eine brennende Lunte seit dem Ersten Weltkrieg
Wolfgang Effenberger
Neben der 100jährigen Konfliktregion Naher Osten brodelt es an allen Verwerfungslinien des Ersten Weltkriegs: Balkan, Ukraine, Armenien und Afrika. Das ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass nach dem Waffenstillstand von 1918 kein Friedensprozess wie nach dem 30-jährigen Krieg, der sogenannte "Westfälische Friede" (vom 15. Mai - 24. Oktober 1648 in Münster und Osnabrück) oder am Ende der napoleonischen Kriege beim "Wiener Kongress" (vom 18. September 1814 bis zum 9. Juni 1815) einsetzte. Hier rangen beide Kriegsparteien um eine für alle annehmbaren und tragfähigen Friedensordnung. Das war im Jahr 1919 nicht mehr der Fall. Die unterlegenen Kriegsparteien wurden einfach zur Unterschrift gezwungen.
Die fehlende Aufarbeitung des Ersten Weltkriegs rächt sich jetzt in Form „vulkanartiger Eruptionen". Damit diese nicht noch größere Dimensionen annehmen, sollte der Weg in den Ersten Weltkrieg so wahrhaftig wie möglich aufgearbeitet werden.
Nachdem sich für das British Empire der 2. Burenkrieg (1899-1902) desaströs entwickelt hatte, wollte man sich für die kommenden Kriege besser wappnen.
Im Februar 1904 begann der Russisch-Japanische Krieg, und am 8. April 1904 kam es zum Abschluss der "Entente Cordiale" zwischen Frankreich und Großbritannien. Damit hatte sich das europäische Machtgefüge fundamental verändert. Am 4. Mai 1904 folgte die Gründung der britischen Schwerterschmiede "Committee of Imperial Defence" (CID). Künftig sollte eine bessere Planung Schlappen wie die im 2. Burenkrieg verhindern helfen. Das CID (1904-1939) wurde bald zu einem bedeutenden Gremium der britischen Regierung. Im CID wurde der Aufbau eines Expeditionskorps, die Vorbereitung der Blockade gegen Deutschland sowie die Einbeziehung der weltweiten Dominions (englisch für „Herrschafts-, Hoheitsgebiete") in die Kriegspläne vorbereitet. Damit nahmen die Planungen eines Feldzugs gegen Deutschland konkrete Formen an.
Parallel dazu lief der englisch-französische Kolonialausgleich bezüglich der Aufteilung Afrikas und England half Frankreich, sich gegen Deutschland als beherrschender Machtfaktor in Marokko zu etablieren.
Das Cover des Buches zeigt eine Karikatur des britischen Imperialisten und Unternehmers Cecil Rhodes (1853-1902).
Die Ausbeutung der Rohstoffe Afrikas stellte für ihn den ersten Schritt zur Vorbereitung der Weltherrschaft der "angelsächsischen Rasse" dar. Die von Rhodes mit initiierten Burenkriege (1880/81 sowie 1899-1902) sollten den Masterplan für viele spätere Kriege bilden, an denen sein Nachfolger Alfred Milner die Hände im Spiel hatte. So sehen manche Historiker den Ersten Weltkrieg auch als Milners Zweiten Krieg (nach dem Burenkrieg 1899-1902).
Willkürliche Grenzziehung 1916 (6)
Ohne Rücksicht auf ethnische und kulturelle Strukturen wurden Grenzen abgesteckt: Großbritannien erhielt das heutige Jordanien, den Irak und Teile Palästinas. Mit ein paar Federstrichen zerstörten damals die Briten und Franzosen die Sicherungsmechanismen der Osmanen im Nahen Osten. Das bedeutete das Ende des Friedens und war für die meisten Araber eine Katastrophe. In diesem Abkommen liegen die Wurzeln der heutigen Kriege und des heutigen Terrorismus im muslimisch-arabischen Spannungsbogen. Lawrence von Arabien lässt grüßen.
Nach den Erfolgen an der Ostfront rief die deutsche Heeresverwaltung in den besetzten Gebieten Polens und Russlands für die dort lebenden Juden eine besondere konfessionelle Vertretung ins Leben. Als Referenten für deren Angelegenheiten wurden jüdische Beamte und Offiziere bestimmt, die für ihre dortigen Glaubensgenossen das rechte Verständnis aufbringen und den hartbedrängten Menschen nach Kräften beistehen sollten. »Waren doch bei Ausbruch des Krieges die Beziehungen zwischen Polen und Juden die denkbar schlechtesten. Juden-Boykott, Verhetzung und leidenschaftliche Anfeindung auf der ganzen Linie!«, hebt der jüdische Journalist Joseph Landau hervor.(7)
Am 27. Oktober 1917 telegrafierte US-Botschafter Francis nach Washington, dass die Bolschewisten Anfang November mit Unterstützung der Kronstädter Militärbasis einen erneuten Umsturzversuch zu unternehmen beabsichtigten. Nur fünf Tage später schickte der britische Außenminister Arthur James Earl of Balfour (1848-1930) Lord Walter Rothschild (1868-1937) einen Brief mit geschichtsträchtigem Inhalt:
Verehrter Lord Rothschild,
ich bin sehr erfreut, Ihnen im Namen der Regierung Seiner Majestät die folgende Erklärung der Sympathie mit den jüdisch-zionistischen Bestrebungen übermitteln zu können, die dem Kabinett vorgelegt und gebilligt worden ist:
Die Regierung Seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, wobei, wohlverstanden, nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nicht-jüdischen Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und den politischen Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diese Erklärung zur Kenntnis der Zionistischen Weltorganisation bringen würden.
Ihr ergebener Arthur Balfour
Der britische Außenminister Arthur James Earl of Balfour 1917
In der Balfour-Deklaration vom 2. November 1917 erklärte sich Großbritannien einver-standen mit dem 1897 festgelegten Ziel des Zionismus, in Palästina eine „nationale Heimstätte" des jüdischen Volkes zu errichten. Damals befand sich Palästina noch im Machtbereich der Osmanen. Erst am 7. November 1917 fiel Gaza, am 16. November Jaffa und am 9. Dezember Jerusalem. Die britische Balfour-Deklaration war an die Verantwortlichen der zionistischen Weltorganisation gerichtet. Sie wird als eine entscheidende Garantieerklärung an den Zionismus angesehen, in Palästina eine „nationale Heimstätte für das jüdische Volk" errichten zu dürfen.
Die damalige britische Regierung unter Lloyd George versprach sich von der Zusage an die zionistische Bewegung Vorteile in der Mobilisierung zusätzlicher Ressourcen während des Krieges und auch langfristige strategische Vorteile.
Martin Mordechai Buber, österreichisch-israelischer jüdischer Religionsphilosoph, hat diese Zusammenhänge durchschaut und sie in der politischen Kommission des XII. Zionisten-kongresses und in "Der Jude"(8) zum Ausdruck gebracht.
Am 24. Juni 1920 hatte Lord Curzon im britischen Oberhaus vorsichtig zugegeben:
„Wir sind in der ersten Zeit des Krieges hingegangen, um Ägypten gegen die türkische Bedrohung zu verteidigen und gewiss wäre, wenn eine feindliche Macht Palästina besetzt hielte, unsere Lage in Ägypten keineswegs sicher".(9)
Und nur vier Wochen später ließ sich der Manchester Guardian über den strategischen Wert Palästinas als das sicherste und am wenigsten kostspielige Bollwerk des Suezkanals aus. Vollends bestätigt sah sich Buber durch zwei Reden britischer Politiker. Anlässlich der Palästina-Debatte im britischen Unterhaus stellte Labour-Party-Mitglied Colonel George Josiah Wedgwood klar und freimütig fest:
„Wir werden wohl unsere Armee in Palästina verstärken müssen. Wir brauchen eine gewisse Macht dort, um den Suez-Kanal zu schützen, da wir gezwungen sind, Palästina als Basis für seinen Schutz zu benützen".(10)
Die andere Rede hielt in seinem Wahldistrikt Ramsay MacDonald, ein » representative man« der englischen Arbeiterbewegung:
„In Palästina erfuhr ich, dass während des Kriegs unsere Regierung den früheren Ober-kommissar ermächtigte, den Arabern mitzuteilen, wenn sie uns im Krieg unterstützten, würden wir ein arabisches Reich errichten … Parallel dazu versprachen wir, den Juden Palästina als Heimstätte zu geben und die jüdische Einwanderung in jeder Weise zu erleichtern, sodass die Juden schließlich die Mehrheit in Palästina bilden würden. Zugleich trafen wir ein drittes Abkommen und zwar mit Frankreich, wonach Syrien, Palästina und Mesopotamien zwischen England und Frankreich aufgeteilt werden sollten.
Diese drei Verpflichtungen, von denen eine der andern widerspricht, wurden also übernommen und unter solchen Umständen muss nun der Oberkommissar sich bemühen, unsere Ehre, unser Ansehen und unsere Autorität zu wahren".(11)
Nach all dem befürchtete Buber, „…dass allem Anschein nach statt der von der Ehre befohlenen Pflicht eines Ausgleichs zwischen den Bevölkerungsteilen Palästinas die Machtlist des »divide et impera» oder gar die von anderen Staaten wohlerprobte Kunst der >Ablenkung auf den Juden< vor der Seele steht".(12) Als Beweis zitierte er oben genannten Labour-Politiker Mac Donald, der in Palästina zudem verlautbaren ließ: „Ich fürchte, dass gewisse Kreise sehr darauf aus sind, den Hass zwischen den Arabern und den Juden zu schüren".(13)
Doch die Männer der Labour Party, so Buber, dachten ebenso wenig wie irgendein ernst zu nehmender englischer Politiker daran, auf Palästina zu verzichten. „Sie kennen den strategischen und auch den großen verkehrs- und wirtschaftspolitischen Wert des Landes für das Imperium".(14)
Etwas hoffnungsvoller stimmte Buber das Versprechen von Colonel Wedgwood, in Palästina so bald wie möglich die Selbstverwaltung einzurichten. Wann wird dies möglich sein, fragte Buber, um selbst die Antwort zu geben: „Wir dürfen wohl als die Meinung der Labour Party annehmen: sobald ein ehrlicher, vollständiger und dauerverheißender Ausgleich zwischen den jüdischen und arabischen Volksinteressen vollzogen worden ist".(15)
Ein Jahrhundert ist seither vergangen und die Fronten haben sich nur weiter verhärtet - zum Leid aller Beteiligten. Für den israelischen Professor Dan Bar-On ebnete zweifellos die Politik des britischen Premiers Campbell-Bannerman und des britischen Außenministers Lord Balfour den Weg der Juden nach Palästina. In seiner Schulbuchinitiative als Beitrag zur Verständigung in Israel und Palästina schrieb er 2003: „Die Briten gaben damit ihre Zustimmung zur Politik der zionistischen Bewegung, Palästina von den arabischen Ländern abzuspalten und dort einen imperialistischen Nukleus zu schaffen, der den ausländischen Einfluss in der Region sichern würde".(16)
Dass ein solcher "imperialistischer Nukleaus" auch einen dauerhaften Unruheherd bildet, wird dabei nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern ist sogar im Interesse der Kolonialmacht, denn dann kann man jederzeit ein Zündholz an die Lunte halten und mithilfe eines Krieges die eigene Macht weiter ausdehnen.
Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, erhielt als Pionierhauptmann bei der Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete "atomare Gefechtsfeld" in Europa. Nach zwölfjähriger Dienstzeit studierte er in München Politikwissenschaft sowie Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Seitdem publiziert er zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik. Zuletzt erschienen vom ihm
- „Schwarzbuch EU & NATO" (2020) sowie
- "Die unterschätzte Macht" (2022)
Quellen und Anmerkungen
1) Wolfgang Effenberger: Europas Verhängnis 14/18 Teil 1 Die Herren des Geldes greifen zur Weltmacht. Höhr-Grenzhausen 2018, S. 28-30
2) 1917 ließ der serbische Premier Nikola Pašić (1904-1918) Iwan Dimitrijewitsch und dessen engste Mitarbeiter im berüchtigten Salonikiprozess wegen eines angeblichen Anschlags auf den serbischen Prinzen Alexander zum Tode verurteilen und hinrichten. Der Prozess wurde auf Anweisung des jugoslawischen Staatschefs Marshall Tito 19153 noch einmal aufgerollt; dabei wurde nachgewiesen, dass es den Anschlag nie gegeben hat und die Zeugenaussagen erpresst worden waren - Pašić hatte sich also auf diese Weise seiner Mitwisser entledigt.
3) Zum Vergleich: Österreich-Ungarn hatte einige Attentäter gefangen nehmen können, und die Spur wies eindeutig auf Belgrad. 30 Tage nach dem Attentat in Serbien, nach dem Ablauf eines Ultimatums und einer darauffolgenden offiziellen Kriegserklärung, erfolgte der Angriff auf Serbien. Die USA griffen nur 27 Tage nach 9/11 Afghanistan an, ohne einen einzigen Hinweis auf eine Mittäterschaft, ohne Ultimatum, ohne Kriegserklärung. Sie blieben dort 20 Jahre und hinterließen nur verbrannte Erde.
4) Zitiert nach Wolfgang Effenberger 2018, S. 57 (Nowostii Zweno vom 28. März 1914)
5) Charles Seymour (Hrsg.): Intimate Papers of Colonel House, Bd. 1, Boston 1926, S. 246
6) Von Sykes-Picot-1916.gif: Original uploader was Ian Pitchford at en.wikipediaderivative work: de:User:Mullerkingdom - Sykes-Picot-1916.gif, Attribution, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15277885
7) Landau, Joseph: Rückblick auf das Jahr 5677, Bd. 18, in: JjGL 1918, S. 10
8) Zitiert nach Wolfgang Effenberger/Reuven Moskovitz: Deutsche und Juden vor 1939, Höhr-Grenzhausen 2013, S. 372 (Allgemeine Zeitung des Judentums (AZJ), Nr. 43 vom 27. Oktober 1916, S. 508 f.)
9) Zitiert nach Effenberger/Moskovitz o.a.O., S. 372 (Deutsche Israelitische Zeitung (DIZ) vom 16. November 1916, S. 2)
10) Der Brief befand sich im Mai 2005 im Jüdischen Museum Berlin.
11) zitiert nach Effenberger/Moskovitz o.a.O., S. 373 (DIZ vom 30. November 1916, S.1)
12) Zitiert nach Effenberger/Moskovitz o.a.O., S. 372 (DIZ vom 23. November 1916, S. 2)
13) Landau, Joseph: Rückblick auf das Jahr 5677, Bd. 18, in: JjGL 1918, S. 3
14) Zitiert nach Effenberger/Moskovitz o.a.O., S. 373 (Herlitz, Georg/Kirschner, Bruno: Jüdisches Lexikon, 5 Bände, Berlin 1928/1929, S. 460 f.)
15) Zitiert nach Effenberger/Moskovitz o.a.O., S. 373 (Der Schild Nr. 24 vom 20. Juni 1927, S. 183)
16) Adwan, Sami /Bar-on, Dan et al: Das Historische Narrativ des Anderen Kennenlernen. Palästinenser und Israelis. Eine Schulbuchinitiative als Beitrag zur Verständigung in Israel und Palästina. Beit Jallah 2003, deutsche Übersetzung Berlin 2009, S. 10