von Dr.Dr. Heinz-Dietmar Schimanko
Der Supreme Court der USA hat in seinem am 1. Juli 2024 verkündeten Urteil entschieden, daß eine US-Präsidentin oder ein US-Präsident auch nach Ende ihrer oder seiner Amtstätigkeit vor Strafverfolgung geschützt sind, die sich auf Handlungen bezieht, die sie oder er in Ausübung ihrer oder seiner Amtstätigkeit vorgenommen haben. Aus der Natur des Präsidentenamts und dem Erfordernis der Absicherung, daß der Präsident sein Amt unbeeinträchtigt ausüben kann, ergebe sich, daß er im Zusammenhang mit der Ausübung seines Amts vor Strafverfolgung und auch vor Schadenersatzforderungen geschützt sein müsse (Supreme Court 01.07.2024 Trump v United States, Syllabus 3f, Opinion of the Court 4, 10f, 13). Die uneingeschränkte Ausübung der Befugnisse des Präsidenten könnte auch gefährdet sein, wenn ein Präsident befürchten müßte, nach seiner Amtszeit wegen seiner Amtsausübung strafrechtlich verfolgt oder haftbar gemacht zu werden (Syllabus 1f, 8; Opinion of the Court 6, 15). Daher gelte diese Immunität vor Strafverfolgung und vor einer Haftung für Schadenersatz auch nach dem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt. Der Bereich dieser Immunität beinhaltet die in der Verfassung abschließend (taxativ) aufgezählten ausschließlichen Kompetenzen (Syllabus 1f; Opinion of the Court 7, 9). Für alle offiziellen Handlungen des Präsidenten besteht die Vermutung der Immunität (Opinion of the Court 14, 24). Seine inoffiziellen Handlungen sind davon nicht geschützt.
In der Verfassungsentwicklung der USA ein bahnbrechendes Urteil. Dem Wesen des Case-Law entsprechend, in dem im Unterschied zum Civil Law ein Gericht bei seiner Entscheidung eines Falls nicht nur Rechtsvorschriften auslegt und anwendet, sondern die Judikative abweichend von der kontinentaleuropäischen Auffassung vom Grundsatz der Gewaltenteilung auch rechtserzeugende Funktion hat, ist es kein Akt der Rechtsfindung, sondern ein Akt der Rechtsschöpfung. Von der Bedeutung dieser ergänzenden Rechtsfortbildung her ist zu berücksichtigen, daß der US-Präsident nicht nur Staatsoberhaupt, sondern auch Regierungschef ist.
Soweit zum Kernbereich (der intensionalen Begriffsbildung) dieser in der Geschichte der US-Verfassung erstmals geschaffenen Immunität. Unklar ist noch die genaue Abgrenzung zwischen offiziellen und inoffiziellen Handlungen des Präsidenten (extensionale Bildung des Begriffs der präsidentiellen Immunität). Diese Abgrenzung ist ähnlich schwierig wie im Amtshaftungsrecht die Auslegung, wann eine Person mit amtlichen Funktionen in Vollziehung der Gesetze tätig ist (siehe Trump's Immunity: Legal Expert Breaks Down Supreme Court Ruling, WSJ 02.07.2024, mit Ausführungen des Prof. Ryan Goodman, NYU).
Was wäre mit Fällen wie Watergate?
Es werden sich in diesem Zusammenhang noch einige spannende Fragen zum Handlungsspielraum des US-Präsidenten als Staats- und Regierungschef ergeben. Für mich stellt sich in der historischen Retrospektive auch die Frage danach, wie die Entscheidung über die Immunität des Präsidenten im Fall von Richard Nixons´ Watergate ausgesehen hätte. Die Begnadigung durch dessen Nachfolger Gerald Ford wäre vielleicht gar nicht in vollem Umfang nötig gewesen, um ihn der Strafverfolgung zu entziehen.
Uneingeschränkte Macht?
Joe Biden kritisierte das Urteil als „gefährlichen Präzedenzfall". „Die heutige Entscheidung bedeutet mit ziemlicher Sicherheit, daß es praktisch keine Grenzen für das Handeln eines Präsidenten gibt", sagte Biden am Montagabend (Ortszeit) im Weißen Haus. Die Macht des Präsidentenamtes werde künftig nicht mehr durch Gesetze eingeschränkt, auch nicht durch das Oberste Gericht. „Die einzigen Grenzen werden vom Präsidenten selbst gesetzt", so Biden (David Signer, NZZ 02.07.2024).
Fraglich ist, in welcher seiner Eigenschaften Biden das gesagt hat, als „Creepy Joe", oder als „Sleepy Joe". Denn es ist wieder einmal eine falsche Behauptung mit Täuschungswirkung.
Die Schöpfer der US-Verfassung haben für eine rechtswidrige Ausübung des Präsidentenamts Vorsorge getroffen. Deren Art. II Abschnitt 4 lautet wie folgt:
„Der Präsident, der Vizepräsident und alle Zivilbeamten der Vereinigten Staaten werden ihres Amtes enthoben, wenn sie wegen Verrats, Bestechung oder anderer Verbrechen und Vergehen unter Amtsanklage gestellt und für schuldig befunden worden sind."
Eine Amtsanklage (Impeachment) wird vom Repräsentantenhaus erhoben (Art. I Abschnitt 2). Über eine Amtsanklage entscheidet der Senat nach einem Beweisverfahren mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder (Art. I Abschnitt 3). Bei Verfahren gegen den Präsidenten der Vereinigten Staaten führt der Oberste Bundesrichter den Vorsitz. Die verurteilende Entscheidung lautet auf Entfernung aus dem Amte und Aberkennung der Befähigung, ein Ehrenamt, eine Vertrauensstellung oder ein besoldetes Amt im Dienste der Vereinigten Staaten zu bekleiden oder auszuüben. Der für schuldig Befundene ist desungeachtet der Anklageerhebung, dem Strafverfahren, der Verurteilung und Strafverbüßung nach Maßgabe der Gesetze ausgesetzt und unterworfen.
Daraus ergibt sich, daß für Straftaten eines US-Präsidenten, eines US-Vizepräsidenten und von Mitgliedern der US-Regierung nicht die staatlichen Anklagebehörden und die allgemeine Strafgerichtsbarkeit zuständig sind, sondern eben die Sonderzuständigkeit des US-Kongresses (Repräsentantenhaus und Senat) besteht. Diese Zuständigkeit besteht für die Dauer deren Amtszeit.
Das hat den Vorteil, daß die allgemeinen staatlichen Institutionen nicht für politische Zwecke mißbraucht werden können.
Verantwortlichkeit in Österreich
In Österreich unterliegen der Bundespräsident und die Mitglieder der Bundesregierung einer politischen und einer rechtlichen Verantwortlichkeit. Die politische Verantwortung wird vom Volk oder vom Nationalrat geltend gemacht durch Abberufung aus dem Amt.
Der Bundespräsident kann durch eine Volkabstimmung abgesetzt werden (Art. 60 Abs. 6 Bundes-Verfassungsgesetz [B-VG]):
„Vor Ablauf der Funktionsperiode kann der Bundespräsident durch Volksabstimmung abgesetzt werden. Die Volksabstimmung ist durchzuführen, wenn die Bundesversammlung [Anm.: Nationalrat und Bundesrat] es verlangt. Die Bundesversammlung ist zu diesem Zweck vom Bundeskanzler einzuberufen, wenn der Nationalrat einen solchen Antrag beschlossen hat. Zum Beschluß des Nationalrates ist die Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder und eine Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen erforderlich. Durch einen derartigen Beschluß des Nationalrates ist der Bundespräsident an der ferneren Ausübung seines Amtes verhindert. Die Ablehnung der Absetzung durch die Volksabstimmung gilt als neue Wahl und hat die Auflösung des Nationalrates (Art. 29 Abs. 1) zur Folge. Auch in diesem Fall darf die gesamte Funktionsperiode des Bundespräsidenten nicht mehr als zwölf Jahre dauern."
Einzelne Mitglieder der Bundesregierung oder die gesamte Bundesregierung sind vom Bundespräsidenten des Amts zu entheben (abzuberufen), wenn der Nationalrat ihnen durch ausdrückliche Entschließung das Vertrauen versagt (Art. 74 B-VG). Zu einem Beschluß des Nationalrates, mit dem das Vertrauen versagt wird, ist die Anwesenheit zumindest der Hälfte der Mitglieder des Nationalrates erforderlich.
Diese Mechanismen funktionieren in der Praxis nur, wenn Abgeordnete Staatsräson als prioritär und Parteipolitik als subsidiär kategorisieren.
Rechtliche Verantwortlichkeit
Eine behördliche oder gerichtliche Verfolgung des Bundespräsidenten ist nur zulässig, wenn ihr die Bundesversammlung zugestimmt hat. Der Antrag auf Verfolgung des Bundespräsidenten ist von der zuständigen Behörde beim Nationalrat zu stellen, der beschließt, ob die Bundesversammlung damit zu befassen ist. Spricht sich der Nationalrat dafür aus, hat der Bundeskanzler die Bundesversammlung sofort einzuberufen (Art. 63 Abs. 2 B-VG).
Ansonsten besteht die Möglichkeit einer Anklage gegen den amtierenden Bundespräsidenten vor dem Verfassungsgerichtshof wegen Straftaten, die mit seiner Amtstätigkeit in Verbindung stehen, oder wegen einer bei seiner Amtstätigkeit erfolgten schuldhaften Rechtsverletzung (Art. 142 B-VG). Eine solche Anklage ist auch gegen amtierende Mitglieder der Bundesregierung oder einer Landesregierung und gegen bestimmte Spitzenbeamte möglich. Mit einer solchen Anklage wird die „verfassungsmäßige Verantwortlichkeit der obersten Bundes- und Landesorgane für die durch ihre Amtstätigkeit erfolgten schuldhaften Rechtsverletzungen" geltend gemacht.
Zu einem Beschluß, mit dem eine solche Anklage gegen den Bundespräsidenten erhoben wird, bedarf es in der Bundesversammlung der Anwesenheit von mehr als der Hälfte der Mitglieder jedes der beiden Vertretungskörper (Nationalrat und Bundesrat) und einer Mehrheit von zumindest zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen (Art. 68 Abs. 3 B-VG).
Zu einem Beschluß, mit dem eine solche Anklage gegen ein Regierungsmitglied erhoben wird, bedarf es der Anwesenheit von mehr als der Hälfte der Nationalratsabgeordneten (Art. 76 Abs. 2 B-VG).
Ein verurteilendes Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes hat auf Verlust des Amtes, unter besonders erschwerenden Umständen auch auf zeitlichen Verlust der politischen Rechte zu lauten; bei bestimmten Rechtsverletzungen kann sich der Verfassungsgerichtshof im Fall deren Geringfügigkeit auf die Feststellung beschränken, daß eine Rechtsverletzung vorliegt (Art. 142 Abs. 4 B-VG). Bei Verurteilung wegen einer Straftat sind die Strafgesetze anzuwenden (Art 143 B-VG).
Das Verhältnis zwischenden staatlichen Anklagebehörden und der allgemeinen Strafgerichtsbarkeit einerseits und der Verfassungsgerichtsbarkeit andererseits ist klar geregelt (Art. 143 B-VG). Wenn eine Anklage gegen den Bundespräsidenten oder gegen Mitglieder einer Bundes- oder Landesregierung vor dem Verfassungsgerichtshof erhoben wird wegen einer Straftat, die mit der Amtstätigkeit einer solchen Person in Verbindung steht, dann wird der Verfassungsgerichtshof dafür ausschließlich zuständig. Ansonsten bleibt es bei der Zuständigkeit der staatlichen Anklagebehörde und des allgemeinen Strafgerichts.
In Österreich gibt es also im Unterschied zu Parlamentsabgeordneten (Art. 57 Abs. 1, Art. 58 iVm Art. 96 Abs. 1 B-VG) und Landtagsabgeordneten (Art. 96 B.-VG) für den Bundespräsidenten und für Mitglieder einer Bundes- oder Landesregierung keine strafrechtliche Immunität für die Ausübung deren Funktion. Es besteht nur für den Bundespräsidenten für die Dauer seiner Amtszeit ein Hindernis für eine gegen ihn gerichtete Strafverfolgung durch allgemeine Anklagebehörden und die allgemeine Strafgerichtsbarkeit (vorübergehende „Immunität"), wenn die Bundesversammlung dieser Strafverfolgung nicht zustimmt (Verfolgungshindernis). In diesem Fall kann die Strafverfolgung nach dem Ende seiner Amtszeit erfolgen. Für die Dauer dieses Verfolgungshindernisses ist die strafrechtliche Verjährung gehemmt (Stillstand der Verjährungsfrist, § 58 Abs. 3 Z 1 öStGB).
Strafverfolgung des Bundespräsidenten Deutschlands
Auch der deutsche Bundespräsident ist den parlamentarischen Abgeordneten (des Bundestags) nicht gleichgestellt, was die berufliche Immunität betrifft, wonach ein Abgeordneter zu keiner Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen einer Äußerung, die er im Bundestag oder in einem seiner Ausschüsse getan hat, gerichtlich oder dienstlich verfolgt oder sonst außerhalb des Bundestages zur Verantwortung gezogen werden darf (Art. 46 Abs. 1 GG; ausgenommen sind nur verleumderische Beleidigungen). Eine solche berufliche Immunität von Parlamentsabgeordneten besteht auch in Österreich. Die berufliche Immunität (Rede-, Äußerungs- und Abstimmungsfreiheit nach Art. 57 Abs. 1 B-VG) bedeutet, daß parlamentarische Abgeordnete wegen Abstimmung in ihrem Vertretungskörper niemals und wegen der in Ausübung ihres Berufs als Abgeordnete gemachten mündlichen oder schriftlichen Äußerungen nur von ihrem Vertretungskörper zur Verantwortung gezogen werden dürfen (durch „Ruf zur Sache" bei Abschweifungen, oder bei Anstandsverletzungen oder Beleidigungen durch „Ruf zur Ordnung", oder im äußersten Fall durch Wortentzug). Diese berufliche Immunität wirkt auf unbegrenzte Dauer als persönlicher Strafausschließungsgrund (ausgenommen sind nur eine Verleumdung und eine nach der Informationsordnung des Nationalrats oder des Bundesrats strafbare Handlung). Auch für Abgeordnete des US-Kongresses gilt eine dauerhafte berufliche Immunität (Art. I. Abschnitt 6 der US-Verfassung).
Wie in Österreich ist auch in Deutschland eine strafrechtliche Verfolgung eines amtierenden Bundespräsidenten von einer parlamentarischen Zustimmung abhängig.
Die Bestimmungen des Grundgesetzes (GG) zum Bundespräsidenten (Art. 60 Abs. 4 GG) verweisen soweit auf die für Bundestagsabgeordnete geltenden Bestimmungen (Art. 46 Abs. 2 bis 4 GG):
„(2) Wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung darf ein Abgeordneter nur mit Genehmigung des Bundestages zur Verantwortung gezogen oder verhaftet werden, es sei denn, daß er bei Begehung der Tat oder im Laufe des folgenden Tages festgenommen wird.
(3) Die Genehmigung des Bundestages ist ferner bei jeder anderen Beschränkung der persönlichen Freiheit eines Abgeordneten oder zur Einleitung eines Verfahrens gegen einen Abgeordneten gemäß Artikel 18 erforderlich.
(4) Jedes Strafverfahren und jedes Verfahren gemäß Artikel 18 gegen einen Abgeordneten, jede Haft und jede sonstige Beschränkung seiner persönlichen Freiheit sind auf Verlangen des Bundestages auszusetzen."
Der Zweck dieser Bestimmungen besteht darin, das Parlament zu schützen vor einer von der Exekutive ausgehenden Funktionsbeeinträchtigung. Das gilt sinngemäß für das Amt des Bundespräsidenten.
Mit dem Bezug auf Artikel 18 GG ist die Verwirkung bestimmter Grundrechte gemeint, wenn jemand sie gegen die freiheitliche demokratische Ordnung ausübt.
Es besteht also auch für den deutschen Bundespräsidenten für die Dauer seiner Amtszeit ein Hindernis für eine gegen ihn gerichtete Strafverfolgung (vorübergehende „Immunität"), wenn der Bundestag dieser Strafverfolgung nicht zustimmt (Verfolgungshindernis). Für die Dauer dieses Verfolgungshindernisses ist die strafrechtliche Verjährung gehemmt (Stillstand der Verjährungsfrist, § 78b dStGB).
Auch für den deutschen Bundespräsidenten besteht während dessen Amtszeit eine Sondergerichtsbarkeit (Art. 61 GG):
„(1) Der Bundestag oder der Bundesrat können den Bundespräsidenten wegen vorsätzlicher Verletzung des Grundgesetzes oder eines anderen Bundesgesetzes vor dem Bundesverfassungsgericht anklagen. Der Antrag auf Erhebung der Anklage muß von mindestens einem Viertel der Mitglieder des Bundestages oder einem Viertel der Stimmen des Bundesrates gestellt werden. Der Beschluß auf Erhebung der Anklage bedarf der Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages oder von zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates. Die Anklage wird von einem Beauftragten der anklagenden Körperschaft vertreten.
(2) Stellt das Bundesverfassungsgericht fest, daß der Bundespräsident einer vorsätzlichen Verletzung des Grundgesetzes oder eines anderen Bundesgesetzes schuldig ist, so kann es ihn des Amtes für verlustig erklären. Durch einstweilige Anordnung kann es nach der Erhebung der Anklage bestimmen, daß er an der Ausübung seines Amtes verhindert ist."
Staatsoberhaupt oder Regierungschef
Zu betonen ist, daß zwischen den Funktionen eines Staatsoberhauptes und eines Regierungschefs zu unterscheiden ist. Der US-Präsident ist im Unterschied zum deutschen und zum österreichischen Bundespräsidenten nicht nur Staatsoberhaupt, sondern auch Regierungschef. Die Ausübung der Funktion eines Regierungschefs hat im Regelfall viel weiterreichende innen- und außenpolitische Auswirkungen. Daher hat eine berufliche Immunität, womit die Ausübung dieser Funktion auf Dauer straffrei gestellt wird, besondere Bedeutung. Die außenpolitischen Auswirkungen können auch uns treffen.