Von Redaktion auf Dienstag, 17. September 2024
Kategorie: KW 38

Dissenting Opinion zur Immunität des Präsidenten

von Dr.Dr. Heinz-Dietmar Schimanko


Der Supreme Court der USA hat in seinem am 1. Juli 2024 gefällten Urteil, das in Fachkreisen als bahnbrechend bezeichnet wird, entschieden, daß ein US-Präsident auch nach Ende seiner Amtstätigkeit vor Strafverfolgung geschützt ist, die sich auf Handlungen bezieht, die er in Ausübung seiner Amtstätigkeit vorgenommen hat. Aus der Natur des Präsidentenamts und dem Erfordernis der Absicherung, daß der Präsident sein Amt unbeeinträchtigt ausüben kann, ergebe sich, daß er im Zusammenhang mit der Ausübung seines Amts vor Strafverfolgung und auch vor Schadenersatzforderungen geschützt sein müsse (Supreme Court 01.07.2024 Trump vs. United States, Syllabus 3f, Opinion of the Court 4, 10f, 13). Die uneingeschränkte Ausübung der Befugnisse des Präsidenten könnte auch gefährdet sein, wenn ein Präsident befürchten müßte, nach seiner Amtszeit wegen seiner Amtsausübung strafrechtlich verfolgt oder haftbar gemacht zu werden (Syllabus 1f, 8; Opinion of the Court 6, 15). Daher gelte diese Immunität vor Strafverfolgung und vor einer Haftung für Schadenersatz auch nach dem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt. Der Bereich dieser dauerhaften Immunität beinhaltet die in der Verfassung abschließend (taxativ) aufgezählten ausschließlichen Kompetenzen des Präsidenten (Syllabus 1f; Opinion of the Court 7, 9). Für alle offiziellen Handlungen des Präsidenten besteht die Vermutung der Immunität (Opinion of the Court 14, 24). Seine inoffiziellen Handlungen sind davon nicht geschützt.

Von der Bedeutung dieser Entscheidung des Supreme Court her ist zu berücksichtigen, daß der US-Präsident nicht nur Staatsoberhaupt, sondern auch Regierungschef ist. In den Rechtsordnungen Deutschlands und Österreichs gibt es eine solche Immunität von Staatsoberhäuptern oder Regierungschefs nicht, sondern nur von Parlamentsabgeordneten (dazu und generell zu dieser Entscheidung näher Schimanko, Die Immunität des Präsidenten, bachheimer.com NL 01.08.2024).

Kritikerinnen und Kritiker dieser Entscheidung meinen, daß der US-Präsident dadurch über dem Gesetz steht, was dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit (der Rule of Law) widerspricht.


Dissenting Opinion

In Deutschland und in Österreich sind Abstimmungen in Richtersenaten geheim, so daß nicht bekannt wird, ob eine Gerichtsentscheidung eines Senats einstimmig oder von der Mehrheit der Senatsmitglieder gefällt wurde, und welche Auffassungsunterschiede es im zweitgenannten Fall zwischen der Mehrheit und der Minderheit gegeben hat. Im Unterschied dazu besteht in den USA die Möglichkeit, daß die überstimmte Minderheit eines Richtersenats in der Entscheidungsbegründung ihre von der Mehrheit abweichende Meinung (dissenting opinion) veröffentlicht.

Die Entscheidung der neun Richterinnen und Richter des Supreme Court vom 01. Juli 2024 in Sachen Trump v. United States erging nicht einstimmig, sondern mit einer Mehrheit von sechs Stimmen (Chief Justice John G. Roberts, Jr., und Associate Justices Samuel A. Alito, Amy Coney Barrett, Neil M. Gorsuch, Brett M. Kavanaugh und Clarence Thomas, wobei Barret und Thomas im Ergebnis mit der Mehrheit übereinstimmen und eine eigene abweichende Begründung [concurring opinion] für die Mehrheitsentscheidung ergänzt haben). Es besteht eine dissenting opinion der Richterin Sonia Sotomayor (mit der die Richterinnen Associate Justice Elena Kagan und Associate Justice Ketanji Brown Jackson übereinstimmen, wobei Richterin Jackson eine ergänzende dissenting opinion angefügt hat). Die dissenting opinion der Richterin Sotomayor ist nach der juristischen Methodenlehre überzeugender, als die Mehrheitsmeinung (opinion of the court).


Zur Systematik der US-Verfassung

In einer systematischen Interpretation der Verfassung mit einer entsprechenden Gesamtbetrachtung ist zu berücksichtigen, daß die US-Verfassung eine Immunität enthält, und zwar für parlamentarische Abgeordnete, wonach kein Mitglied des Repräsentantenhauses oder des Senats wegen seiner Reden oder Äußerungen in einem der Häuser andernorts zur Rechenschaft gezogen werden darf (Speech or Debate Clause, Art. I. Abschnitt 6). Mit dieser Immunität soll sichergestellt werden, daß die parlamentarische Arbeit frei von äußeren Einflüssen und Zwängen erfolgen kann. Nach dem Vorbild der US-Verfassung enthalten auch die Verfassungen Deutschlands und Österreichs eine Immunität für parlamentarische Abgeordnete (dazu näher Schimanko, bachheimer.com NL 01.08.2024).

Die Schöpfer (Framers) der US-Verfassung waren sich demnach der Möglichkeit, eine Immunität für die Ausübung einer Funktion zu etablieren, bewußt und haben in der US-Verfassung explizit die Ausübung eines Abgeordnetenmandats vor Haftung und Strafverfolgung immunisiert, nicht aber die Ausübung des Präsidentenamts. Daher ergibt sich aus dem Umstand, daß nach der US-Verfassung nur für parlamentarische Abgeordnete eine Immunität besteht, mit einem Umkehrschluß (argumentum e contrario), daß nach den Intentionen der konstituierenden verfassungsgebenden Versammlung als normsetzender Instanz für andere Staatsfunktionen keine Immunität bestehen soll (Dissenting Opinion Sotomayor 5). In der US-Verfassung ist also für das Amt des Präsidenten bewußt keine Immunität enthalten.

Historisch-genetische und historisch-analytische Interpretation

Als die US-Verfassung vom Verfassungskonvent geschaffen wurde, enthielten die Verfassungen von zwei der dreizehn Gründerstaaten, Maryland und Delaware, eine strafrechtliche Immunität für ihre Gouverneure. Man kannte damals also auch eine Immunität von Regierungschefs. Auch insofern ergibt sich, daß man eine solche Immunität für den US-Präsidenten nicht etablieren wollte. Andernfalls hätte man in der US-Verfassung ausdrücklich eine solche Immunität geregelt.

Wie sich (historisch-genetisch) aus historischen Dokumenten zur US-Verfassung wie den von einem Teil der Founding Fathers, Alexander Hamilton, John Jay und James Madison verfaßten Federalist Papers ergibt, wollte man in Absage an die im Unabhängigkeitskrieg (1775 bis 1783) beendete britische Herrschaft keinen sakrosankten König, der über dem Gesetz steht und damit eine privilegierte Stellung hat. Vielmehr wollte man, daß die Person, die Staatsoberhaupt und Regierungschef ist, dem Gleichheitsgrundsatz entsprechend ebenso wie alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger dem Gesetz unterworfen ist (Dissenting Opinion Sotomayor 7f). Man wollte bewußt gerade auch für die Person, die das Amt des Präsidenten ausübt, eine strafrechtliche Verantwortlichkeit, um eine ordnungsgemäße Amtsausübung sicherzustellen. Es bestand die vorherrschende Ansicht, daß Privilegien allzuleicht zu Amtsmißbrauch verleiten (Sotomayor aaO).

Es ergibt sich also auch historisch-analytisch, daß eine Immunität des US-Präsidenten nicht der US-Verfassung entspricht.

Zum Stellenwert der Gewaltenteilung

Sowohl die Mehrheit als auch die Minderheit argumentieren mit der Gewaltenteilung (Syllabus, 2f, 8; Opinion of the court 14f; Dissenting Opinion Sotomayor 6, 13, 21). Entgegen der Mehrheit erfordert die Aufteilung der staatlichen Kompetenzen in Exekutive (Verwaltung), Legislative (Gesetzgebung) und Judikative (Gerichtsbarkeit) nicht, daß ein Präsident als Chef der (Bundes-)Exekutive von der strafrechtlichen Verantwortung freigestellt wird. Vielmehr soll er ebenso wie jede Bürgerin und jeder Bürger an die Gesetze gebunden sein (Rule of Law). Außerdem hat er sein Amt im Interesse des Staates auszuüben. Er soll für eine gesetzmäßige Bundesverwaltung sorgen. Um so mehr muß daher kontrollierbar sein, ob er sich bei der Amtsausübung an die Strafgesetze hält oder nicht. Ob er sich strafbar gemacht hat, ist nach der Verfassung ohnedies von der unabhängigen Gerichtsbarkeit in einem geordneten Verfahren mit den Garantien des VI. Zusatzartikels der US-Verfassung zu klären. Eine Anklageerhebung durch die der Exekutive zuzuordnende Staatsanwaltschaft ist nur bei einem nach objektiven Maßstäben begründeten Verdacht zulässig. Die ordnungsgemäße Amtsausübung des US-Präsidenten wird daher durch die Strafjustiz nicht beeinträchtigt.

Keine Haftung, aber strafrechtliche Verantwortung

Die Mehrheit lehnt sowohl eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Präsidenten, als auch dessen zivilrechtliche Haftung ab, weil es ihn von der Amtsausübung abhalten könnte, wenn er sich während seiner Amtszeit mit einer größeren Anzahl von gegen ihn erhobenen, allenfalls umfangreicheren Klagen oder Anklagen auseinandersetzen oder befürchten müßte, nach seiner Amtszeit zahlreicheren und umfangreicheren Prozessen ausgesetzt zu sein. Sotomayor zeigt demgegenüber zutreffend den Unterschied zwischen Zivilklagen und strafrechtlichen Anklagen auf (Dissenting Opinion Sotomayor 13f, 19). Zivilklagen werden von Privatpersonen erhoben, und ihre Anzahl ist nicht steuerbar. Anklagen werden demgegenüber von einer staatlichen Anklagebehörde nach objektiven Grundsätzen in begründeten Einzelfällen erhoben, so daß bei ihnen das Quantitätsargument nicht gilt. Ein öffentliches Interesse besteht nicht an Zivilklagen, aber an ordnungsgemäßer Strafverfolgung. (Rechtlich wird mit dem von der Verfassung vorgesehenen idealtypischen Funktionieren von staatlichen Institutionen argumentiert; bei einem Mißbrauch von staatlichen Institutionen für parteipolitische Zwecke ist die faktische Situation freilich anders.) Sotomayor stimmt daher der Mehrheit nur soweit zu, daß der Präsident für seine Amtsausübung nicht zivilrechtlich haftbar ist (so bereits Supreme Court in der Sache Fitzgerald v Nixon).

Der Konnex zu den Bestimmungen zum Impeachment

In der Mehrheitsentscheidung wird entsprechend dem Grundsystem des Case Law, wonach aus dem zu entscheidenden Einzelfall eine Regel induziert wird, falls noch kein Präjudiz eines gleichrangigen oder höherrangigen Gerichts zu einem in den entscheidungswesentlichen Umständen übereinstimmenden Fall besteht, betont, daß die Entscheidung nur zu dem Fall ergeht, in dem sich die Frage der Verantwortlichkeit eines ehemaligen Präsidenten stellt. Es ist aber angebracht, sich auch die Frage nach einer mit den Bestimmungen über die Amtsenthebung (Impeachment) eines amtierenden Präsidenten kohärenten Regelung zu stellen.

Die Schöpfer der US-Verfassung haben für eine rechtswidrige Ausübung des Präsidentenamts Vorsorge getroffen. Deren Art. II Abschnitt 4 lautet wie folgt:

Der Präsident, der Vizepräsident und alle Zivilbeamten der Vereinigten Staaten werden ihres Amtes enthoben, wenn sie wegen Verrats, Bestechung oder anderer Verbrechen und Vergehen unter Amtsanklage gestellt und für schuldig befunden worden sind."

Eine Amtsanklage (Impeachment) wird vom Repräsentantenhaus erhoben (Art. I Abschnitt 2). Über eine Amtsanklage entscheidet der Senat nach einem Beweisverfahren mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder (Art. I Abschnitt 3). Bei Verfahren gegen den Präsidenten der Vereinigten Staaten führt der Oberste Bundesrichter den Vorsitz. Die verurteilende Entscheidung lautet auf Entfernung aus dem Amte und Aberkennung der Befähigung, ein Ehrenamt, eine Vertrauensstellung oder ein besoldetes Amt im Dienste der Vereinigten Staaten zu bekleiden oder auszuüben. Der für schuldig Befundene ist desungeachtet der Anklageerhebung, dem Strafverfahren, der Verurteilung und Strafverbüßung nach Maßgabe der Gesetze ausgesetzt und unterworfen.

Der letzte Satz des Artikel I Abschnitt 3 lautet im Original wie folgt:

Judgment in cases of impeachment shall not extend further than to removal from office, and disqualification to hold and enjoy any office of honor, trust or profit under the United States: but the party convicted shall nevertheless be liable and subject to indictment, trial, judgment and punishment, according to law.

Damit ist undifferenziert sowohl für Regierungsmitglieder als auch für Präsidenten und Vizepräsidenten statuiert, daß sie im Fall einer Amtsenthebung wegen einer Straftat unabhängig von der Amtsenthebung auch strafrechtlich verantwortlich sind. Wie Sotomayor ausführt, ergibt sich aus diesen Verfassungsbestimmungen, daß ein US-Präsident wegen Straftaten, die er in Ausübung seines Amtes begeht, strafrechtlich verurteilt werden kann, also nicht immun vor Strafverfolgung ist (Dissenting Opinion Sotomayor 6).

Das Ergebnis der Mehrheitsentscheidung ist inkohärent, weil keine sachliche Begründung besteht, bei dieser Themenstellung einen amtierenden und einen ehemaligen US-Präsidenten ungleich zu behandeln, und sollte revidiert werden, jedenfalls auf Basis der geltenden US-Verfassung. Die Immunität von Mitgliedern der Exekutive der USA oder eines anderen Staates sollte aber auch nicht durch eine Verfassungsänderung etabliert werden, damit sichergestellt ist, daß die Ausübung deren Ämter nach den Rechtsvorschriften und damit im öffentlichen Interesse erfolgt, und sie andernfalls zur Verantwortung gezogen werden.