Von Dr.Dr. Heinz-Dietmar Schimanko
Der Grundtatbestand der Umsatzsteuer ist die Besteuerung des Entgelts für Waren und Dienstleistungen (einschließlich Werkleistungen). Sie ist eine Verkehrssteuer und Objektsteuer. Steuerschuldner sind Unternehmerinnen und Unternehmer im Sinne der Umsatzsteuervorschriften. Das sind Personen, die selbständig fortgesetzt Waren veräußern oder Dienstleistungen entgeltlich erbringen, um Einnahmen zu erzielen. Belastet mit der Umsatzsteuer („Steuerträger") sind im Nettoumsatzsteuersystem aber nur Endverbraucher, weil Unternehmer die Umsatzsteuer auf die Endverbraucher überwälzen. Die Umsatzsteuer wird daher als indirekte Steuer bezeichnet.
Die Umsatzsteuer (auch "Mehrwertsteuer") ist im heutigen Fiskalismus eine Selbstverständlichkeit. Es ist aber angebracht, ihre Entstehung und Daseinsberechtigung zu hinterfragen. Und da spricht ein alter Lexikoneintrag Bände.
Aus Meyers Lexikon, zwölfter Band, 7. Auflage 1930:
"Die Umsatzsteuer ist eine nur in Zeiten finanzwirtschaftlicher Not auftretende Steuer, sie kommt daher, von Ausnahmen (Bremen 1862-84; Ver.St.v.A. 1862-70) abgesehen, in modernen Steuersystemen erst in und nach dem Weltkrieg vor."
Gemeint ist der Erste Weltkrieg. Wie in diesem Beitrag angeführt, wurde die Umsatzsteuer im Deutschen Reich im Jahr 1916 eingeführt. Sie besteht bis heute. Demnach scheint die finanzwirtschaftliche Not bis heute anzuhalten.
Bemerkenswert ist auch, daß 1916 der Steuersatz 0,1% betrug, und ab 1919 wiederholt angehoben wurde bis auf 2,5% im Jahr 1923 und dann im Jahr 1926 auf 0,75% herabgesetzt wurde. Heute beträgt der Regelsteuersatz der Umsatzsteuer in Deutschland 19%.
Die Grundsatzkritik an der Umsatzsteuer wurde bereits damals laut:
"Die Erhebungskosten sind gering. Die Erfassung des Steuerobjekts ist einfach. Da aber das Verhältnis von Umsatz zu Gewinn sehr verschieden ist, ist die Umsatzsteuer eine sehr rohe Steuer und belastet Betriebe mit geringer Gewinnquote wesentlich stärker als solche mit hoher. Gelingt die vom Gesetzgeber gewollte Abwälzung der Steuer, so werden alle Verbraucher gleichmäßig getroffen, die kleinen Einkommen also stärker belastet als die großen."Die Umsatzsteuer im Staatshaushalt
In früheren Zeiten war das Steueraufkommen aus der Umsatzsteuer wesentlich geringer. Es betrug mehr als 1,4 Milliarden Reichsmark (RM) in den Jahren 1925/26 und mehr als 882 Millionen RM in den Jahren 1926/27 (Meyers Lexikon, elfter Band, siebente Auflage 1929, 896). Das waren 57% und 33,5% des Steueraufkommens aus der Einkommenssteuer einschließlich der Körperschaftssteuer. Der Anteil der Umsatzsteuer am Gesamtsteueraufkommen betrug in diesen Jahren 13,9% und 8,1%.
Bis heute haben sich die Verhältnisse gravierend geändert. Heute beträgt das Steueraufkommen aus der Umsatzsteuer 70% des Steueraufkommens aus der Einkommenssteuer einschließlich Körperschaftsteuer und der Anteil der Umsatzsteuer am Gesamtsteueraufkommen beträgt 31,7% (Quelle: Sozialpolitik Aktuell, Struktur des Steueraufkommens 2024).
Von der Brutto- zur Nettoumsatzsteuer
Bis 1967 galt in der BRD die Bruttoumsatzsteuer (dazu näher Prof. Stefan Homburg, Zollkrieg: Umsatzsteuer, Digitalsteuer?, YT 08.04.2025). Dieses System wirkt preissteigernd und bietet einen Anreiz zur Verkürzung vertikaler Vertriebswege, weil es Unternehmer nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt. Sie sind daher mit Umsatzsteuer belastet, die sie an andere Unternehmer zahlen müssen, um von diesen Leistungen zu erhalten, die sie benötigen, um selbst Waren oder Dienstleistungen anzubieten. Der Preis ist bei diesem System von Absatzstufe zu Absatzstufe zusätzlich erhöht, weil bei jedem Warenverkauf und jeder Dienstleistungserbringung zum ökonomisch kalkulierten Preis der darauf entfallende Umsatzsteueranteil dazukommt. Wenngleich damals ein geringerer Steuersatz von 4% galt.
Seit 1968 gilt das Nettoumsatzsteuersystem. Das ermöglicht den Vorsteuerabzug, womit Unternehmer von der Umsatzsteuer, die sie aus vereinnahmten Entgelten an das Finanzamt zu entrichten haben (Umsatzsteuerzahllast), die Umsatzsteuerbeträge abziehen können, die sie an andere Unternehmer zu zahlen haben. Damit werden letztlich nur Endverbraucher mit der Umsatzsteuer belastet. Damit das alle Endverbraucher gleichmäßig trifft, ist die Umsatzsteuer als Allphasenumsatzsteuer ausgestaltet, die für alle Absatzstufen gilt, damit ihr Endverbraucher nicht entkommen.
Die Beeinträchtigung des Binnenmarktes
Zwischen den EU-Mitgliedstaaten bestehen erhebliche Unterschiede in der Höhe des Umsatzsteuersatzes (zur Übersicht Wirtschaftskammer Österreich (Hrsg.), Mehrwertsteuersätze in der EU, Stand 31.01.2025, mit Regelsteuersätzen und ermäßigten Steuersätzen). Die Unterschiede bei den Regelsteuersätzen betragen von 16% bis 27%. Die Erwartungen einiger Neoliberaler, daß es innerhalb der EU mit ihrer Niederlassungsfreiheit und Freizügigkeit zu einem Wettbewerb der EU-Staaten um Unternehmer- und Betriebsansiedelungen und damit zu einer Senkung von Steuersätzen kommt, um (potentielle) Unternehmensstandorte attraktiver zu gestalten, erfüllen sich kaum. Und bei den meisten Politikerinnen und Politikern fehlt die Erkenntnis, daß der Staat mit niedrigeren Steuersätzen höhere Steuereinnahmen erhalten kann, weil mit einer Steuerentlastung das Wirtschaftsgeschehen gesteigert und damit die Anzahl an Abgabenvorgängen erhöht werden kann.
Die unterschiedliche Höhe von Umsatzsteuersätzen bewirkt für Unternehmer, die an Endverbraucher liefern, oder Endverbrauchern Dienstleistungen erbringen, einen Wettbewerbsnachteil, wenn sie in einem Staat mit einem vergleichsweise hohen Umsatzsteuersatz ansässig sind. Denn nach der EU-Binnenmarktregelung gilt im Verhältnis zwischen Unternehmern („b2b") das Bestimmungslandprinzip, aber im Verhältnis zu Endverbrauchern („b2c") das Ursprungslandprinzip, wonach die Umsatzsteuer gilt, die am Sitz des Unternehmers zu entrichten ist.
Für den Versandhandel bestanden daher besondere Kontingentregelungen. Bis zu einer bestimmten Lieferschwelle (Umsatzgrenze) konnte der in einem EU-Staat ansässige Unternehmer entgeltlich Waren an Endverbraucher in einem anderen EU-Staat versenden, und hatte nur die in seinem EU-Staat geltende Umsatzsteuer zu entrichten. Bei Überschreiten der für diesen anderen EU-Staat geltenden Lieferschwelle hatte er für seine die Lieferschwelle übersteigenden Umsätze im anderen EU-Staat Umsatzsteuer zu entrichten. Beispielsweise betrug die Lieferschwelle nach Österreich im Jahr 2020 EUR 35.000,00. Eine solche Kontingentierung widerspricht dem Prinzip der Freihandelszone, die der Binnenmarkt ja sein sollte. Sie wurde ab dem Jahr 2021 aufgehoben (W. Doralt, Steuerrecht 2020, 21. Auflage Rz 359).
Nun gilt im Versandhandel die Regelung, daß als Ort der Lieferung der Ort am Ende der Beförderung (Versendung) gilt, so daß im Bestimmungsland die Umsatzsteuer zu entrichten ist. Davon ausgenommen sind nur Kleinstunternehmer, deren innergemeinschaftlichen Versandhandelsumsätze an Nichtunternehmer den Betrag von jährlich EUR 10.000,00 nicht übersteigen (Doralt/Hohenwarter, Steuerrecht 2025, 26. Auflage Rz 359). Für diese Kleinstunternehmer gilt das Ursprungslandprinzip. Diese Regelung ist eine Zurückdrängung des Ursprungslandprinzips, das dann vor allem gilt, wenn Verbraucher Waren vom Unternehmer abholen (Doralt/Hohenwarter, aaO Rz 359/1).
Freilich ändert auch die neue Regelung nichts daran, daß unterschiedliche Umsatzsteuersätze in einzelnen EU-Staaten wettbewerbsverzerrend und damit ein Verstoß gegen das Prinzip des gemeinsamen Binnenmarktes sind, weil noch immer ein sachlich nicht gerechtfertigter Unterschied besteht zwischen Abholung einer Ware beim Unternehmer und Versendung der Ware an den Verbraucher, so daß es wegen der unterschiedlichen Umsatzsteuersätze zu Wettbewerbsnachteilen von Unternehmern in Staaten mit hohen Umsatzsteuersätzen kommt. Das insbesondere in Grenzregionen oder bei höherwertigen Gütern, bei denen Verbraucher eine Selbstabholung bei einem Unternehmer mit Sitz in einem EU-Staat mit niedrigerem Umsatzsteuersatz eher auf sich nehmen, wobei die Selbstabholung unter Mitwirkung eines vom Verbraucher beigezogenen Transporteurs erfolgen kann.
Außerdem entspricht es nicht der Idee des gemeinsamen Binnenmarktes, wenn Verbraucher in einzelnen Bereichen des gemeinsamen Marktes für ein und dieselbe Art von Waren oder Dienstleistungen durch unterschiedlich hohe Umsatzsteuersätze unterschiedlich hohe Preise bezahlen müssen.
Der gemeinsame Binnenmarkt erfordert Einheitlichkeit. Der Unterschied in den Umsatzsteuersätzen der EU-Staaten ist daher zu beseitigen. Dafür müßte man sich in der EU auf deren Kernaufgaben konzentrieren, Handelshemmnisse abzubauen und Rechtsvereinheitlichung voranzutreiben. Die Nivellierung der Umsatzsteuer sollte auf niedrigem Niveau erfolgen.
Ziel müßte es letztlich sein, die Umsatzsteuern ganz zu beseitigen – wenn die finanzwirtschaftliche Not dann überwunden sein wird.