Netanjahu - wiederholt sich die Geschichte?
Dr.Dr. Heinz-Dietmar Schimanko
Geschichte wiederholt sich an sich nicht. Ein Vergleich von verschiedenen historischen Situationen und Ereignissen kann meistens nur auf einem gewissen generellen Abstraktionsniveau sinnvoll sein, auf dem sich manchmal historische Analogien oder wenigstens Parallelen ergeben. Und da könnte sich die israelische Geschichte wiederholen.
Am 7. Oktober 2023 wurden die israelischen Streitkräfte von einem von der palästinensischen Terrororganisation Hamas mit mehreren tausend Terroristen vom Gaza-Streifen aus in Israel gleichzeitig an vielen Orten durchgeführten Terrorangriff auf israelische Babys, Kinder, Frauen und Männer überrascht. Dessen Abwehr setzte auch nach Bekanntwerden des Angriffs oft zu spät ein. Die militärischen Gegenmaßnahmen, zu deren Durchführung eine Armee auch spontan in der Lage sein sollte, blieben vielerorts zu lange aus. Außerdem stellt sich die Frage, warum der israelische Geheimdienst nicht zuvor Anzeichen für diesen Terrorangriff erkannt hat.
"Auch ich werde deshalb Fragen zu beantworten haben", räumte Premierminister Benjamin Netanjahu in einem am 29 01.2024 mit ihm geführten Interview ein. Er wolle aber zunächst den Krieg gegen die Hamas leiten und mit einem restlosen Sieg zu Ende führen.
Das könnte zu einer historischen Analogie werden. Denn bereits einmal zuvor waren die israelischen Streitkräfte vom Gegner überrascht worden - beim Angriff am 06. Oktober 1973, womit der Jom Kippur-Krieg begann (benannt nach dem Umstand, daß in diesem Jahr an diesem Tag der höchste jüdische Feiertag Jom Kippur war):
"Angriff von zwei Seiten. Israel ist völlig überrumpelt, als um 14 Uhr zeitgleich ägyptische und syrische Streitkräfte angreifen – die einen am Suez-Kanal, die anderen auf den Golan-Höhen. Fünf ägyptische Divisionen mit 70.000 Mann überqueren an mehreren Stellen den Suez-Kanal und haben leichtes Spiel mit den nur knapp 500 israelischen Soldaten, die Stellungen der sogenannten "Bar-Lev-Linie" östlich des Kanals halten. Bis Verstärkung aus dem Landesinneren kommt, haben die Ägypter ihre Brückenköpfe bereits ausgeweitet und einen Teil der Sinai-Halbinsel zurückerobert, die sie im Sechstagekrieg 1967 komplett an Israel verloren hatten.
Auf den ebenfalls seit 1967 von Israel besetzt gehaltenen Golan-Höhen beginnt der Krieg mit massiven Angriffen der syrischen Luftwaffe und Artillerie, wenig später stoßen Panzer-Divisionen mit insgesamt 1400 Panzern vor, gefolgt von zwei weiteren Divisionen. Auch auf dem Golan sind die Israelis unvorbereitet, haben schwere Verluste und müssen vor allem die seit 1967 auf den Höhen errichteten Siedlungen evakuieren. [...]
Fast verliert Israel die Kontrolle über die Golan-Höhen. Erst am dritten Tag des Krieges setzt der Gegenangriff richtig ein. In zwei Tagen hat man die Höhen wieder erobert, ab dem dritten Tag wird der Krieg in syrisches Gebiet hineingetragen. Die Israelis dringen dabei bis nach Sasa vor, etwa 40 Kilometer von Damaskus entfernt. Auf der ägyptischen Front gelingt es ihnen, den Suez-Kanal ihrerseits zu überqueren und Gebiet westlich davon zu erobern, bis hin zur Strasse Suez-Kairo. Bei diesem Vorstoß wurde die Dritte Ägyptische Armee umzingelt und von ihrem Hinterland abgeschnitten. [...]
Am 24. Oktober kommen die Kämpfe zu einem Ende. Ägypten hat 15.000 Opfer zu beklagen, Syrien 3000 und Israel 2656."
(Peter Philipp, Yom Kippur-Krieg, Deutsche Welle 06.10.2008)
Nach dem Krieg wurde der Umstand aufgearbeitet, daß Israel von dem Angriff überrascht worden war, was Rücktritte der führenden Politiker und des Generalstabschefs zur Folge hatte:
"Nach dem Krieg ist der israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir förmlich anzuhören, dass ihr Land überrumpelt worden war: ,Der Krieg brach eigentlich um zwei Uhr aus, aber um vier Uhr morgens erst hatten wir definitive Bestätigung, dass der Krieg stattfinden wird und das an der ägyptischen und syrischen Grenze gleichzeitig'.
In Israel beginnt eine akribische Suche nach den Verantwortlichen. Eine Untersuchungskommission – die Agranat-Kommission – wird zu diesem Zweck eingesetzt. Schnell stellt sich heraus, dass der militärische Geheimdienst, aber auch die Politiker versagt haben: Kriegsvorbereitungen der Ägypter und Syrer waren seit 1972 beobachtet, aber immer als Manöver oder Täuschung interpretiert worden. Israel war sich seiner eigenen Stärke zu sicher, der Überlegenheit der eigenen Truppen wie auch der Verteidigungsanlagen am Suez-Kanal. Generalstabschef David Elazar wollte zwar die Truppen zu Beginn des Krieges mobilisieren, aber die Politiker lehnten ab. Sie glaubten nicht an Krieg und wollten die Spannung nicht mit ihrer Mobilisierung verschärfen.
Ministerpräsidentin Golda Meir und Verteidigungsminister Moshe Dayan treten zurück, auch Elazar geht in den Ruhestand."
(Peter Philipp, Yom Kippur-Krieg, Deutsche Welle 06.10.2008)
Es wird sich weisen, ob Netanjahu nach dem derzeit von den israelischen Streitkräften im Gaza-Streifen gegen die Terrororganisation Hamas geführten Krieg das gleiche Schicksal ereilen wird.