Wolfgang Effenberger
Fünf Tage nach dem vermeintlichen Putsch des russischen Söldnerchefs Prigoschin erschien am 28. Juni 2023 in "Foreign Affairs" - der Hauspostille des "Council of Foreign Relations" - der Artikel "Russia's New Time of Troubles. It's Not 1917 in Moscow - It's 1604" (Russlands neue Zeit der Wirren. Es ist nicht 1917 - es ist 1604). Autor dieses Artikels ist der in Moskau geborene Historiker Wladislaw Martinowitsch Subok, der nunmehr als Professor für internationale Geschichte an der London School of Economics and Political Science lehrt.
Der an der Moskauer Lomonossow-Universität ausgebildete Subok (geb. 1958) gilt im Westen als Experte für den Kalten Krieg, die Sowjetunion, den Stalinismus und die Geistesgeschichte Russlands im 20. Jahrhundert. Nach Abschluss seines Doktoratsstudiums im Jahr 1985 war Subok von 1994 bis 2001 Inhaber eines Forschungsstipendiums („Fellow") am National Security Archive der George Washington University. Nach Lehraufträgen am Amherst College, der Stanford University und an sonstigen Bildungsstätten in den USA wurde er 2004 ordent-licher Professor an der Temple University in Philadelphia. Heute ist er Professor für Internationale Geschichte an der Londoner "School of Economics and Political Science".
Für Subok besteht kein Zweifel daran, dass die Prigoschin-Affäre die Lage in Russland unwiderruflich verändert hat, wobei vieles in Bezug auf den Aufstand und seine Folgen ungewiss bleibt. Klar ist jedoch für Subok, „…dass Putin und seine Kritiker und Gegner mit dem Verweis auf das Jahr 1917 die falsche historische Analogie gewählt haben. Was sich derzeit in Russland abspielt, hat weniger Ähnlichkeit mit den Ereignissen von 1917 als mit denen einer früheren Epoche: der sogenannten Zeit der Unruhen oder Smuta, die von 1604 bis 1613 dauerte"(1).
1580-1618 Polens frühe Aggressionen gegen Russland
Im Westen wird dagegen eher von der "Zeit der Wirren" gesprochen, die durch den Tod des Rurikiden-Zaren und Großfürsten von Moskau Iwan der IV. (Beiname "Der Schreckliche") 1584 nicht zuletzt dadurch vorbereitet wurde, dass er seinen Sohn Dimitri, den möglichen Thronfolger, in einem Wutanfall getötet haben soll. Als Grund wird u.a. auch von einem handgreiflichen Streit zwischen Vater und Sohn über die vielen Rückschläge im Livländischen Krieg und die vom Sohn geforderte Hilfe für die von den Polen ab August 1581 belagerte russische Stadt Pskow, bei dem auch der Bojare und Höfling Boris Godunow (1552-1605) verletzt wurde, als er dazwischentreten wollte. Die polnische Armee hatte schon 2 Jahre zuvor die Städte Polozk und Welikije Luki besetzt.(2) Mitte Januar 1582 unterzeichneten Stephan Báthory und Iwan der IV. den Vertrag von Jam Zapolski. Die polnisch-litauische Armee zog sich zurück.
Beim Tod von Iwan der IV. könnte auch Boris Godunow nachgeholfen haben. Den Grund sehen russische Historiker darin, dass Godunow vehement gegen die vom damaligen englischen Leibarzt Robert Jacob initiierte Absicht Iwans gewesen sein soll, eine Verwandte von Elisabeth I., Mary Hastings, zu ehelichen.(3) Diese Verbindung, so die Sorge der Verschwörer, hätte den Einfluss der englischen Krone auf das russische Reich bedeutend verstärkt.
Zwischen 1584 und 1598 lenkte Boris Godunow als Schwager des religiösen und unpolitischen Zaren Fjodor des I. entscheidend die Politik des Landes. Nach dem Tod Fjodors und dem Aussterben der Rurikiden-Dynastie begann unter Boris Godunow - 1598 bis 1605 Zar und Großfürst von Russland - die "Zeit der Wirren", die erst mit dem Herrschaftsantritt von Michael dem I. im Jahr 1613, dem Beginn der Herrschaft der Romanows, endeten. In dieser Zeit gab es fünf Regenten auf dem Zarenthron.
In den Jahren 1601 bis 1604 traten drei Hungersnöte auf. Die witterungsbedingten Missernten sollen im Zusammenhang mit dem Ausbruch des in der Cordillera Volcánica / Region Moquegua im Süden Perus liegenden Vulkans Huaynaputina im Jahr 1600 stehen.
Zu dieser Zeit tauchte ein abenteuerlicher junger Mönch auf, der behauptete, Iwans überlebender Sohn zu sein, und beanspruchte den Zarenthron. Er konnte auf den Rückhalt der polnisch-litauischen Herrscher zählen, die auf Russlands Ressourcen aus waren.
1605 verschärfte sich mit Godunows Tod die Situation, als es polnischen Truppen gelang, Moskau zu erobern und der polnische König Sigismund der III. den sogenannten falschen Dimitri auf den Zarenthron setzte.
Hier hatte Polen die Notsituation des östlichen Nachbarn für seine kriegerischen Ziele genutzt: Das sollte sich 1920 wiederholen, als Polen seinen Nachbarn Russland, das sich in einem Bürgerkrieg befand, nochmals angriff und weite Gebiete eroberte (das sogenannte Ostpolen)
1606 wurde der von Polen instrumentalisierte Hochstapler (der falsche Dimitri) zusammen mit seinem polnischen Gefolge von einem desillusionierten Mob getötet. Volksaufstände brachen aus, was die Verhältnisse noch instabiler machte: Der sich auf Bojaren und Schweden stützende neue Zar Wassili Schuiski war bei den Bauern verhasst und konnte seine Herrschaft nie im gesamten Land etablieren, zumal er von einem zweiten falschen Dimitri bedrängt wurde. Diesen konnte er 1610 mit schwedischer Hilfe besiegen, wurde aber kurz danach mit polnischer Hilfe gestürzt. Die Polen, die Ende 1609 die Kampfhandlungen eröffnet hatten, besetzten im Zuge des polnischen Vormarsches Moskau. Kurz darauf wurde der polnische Kron-prinz Władysław gegen Garantien als Zar installiert. Die polnische Herrschaft, gekennzeichnet von Gewalt und Raub sowie Konflikten zwischen polnischem Katholizismus und russischer Orthodoxie, verlor jedoch zunehmend an Rückhalt in der Gesellschaft. Im Nordwesten und im Osten verweigerte eine Reihe von Städten die Eidesleistung an Władysław. Als dann sein Vater König Sigismund der III. selbst den Zarenthron beanspruchte, folgte eine fast dreijährige Phase völliger Herrscherlosigkeit.
1612 organisierten Kusma Minin (ein Kaufmann aus Nischni Nowgorod) und Fürst Dmitri Poscharski mit Unterstützung durch den Metropoliten Filaret in Moskau einen Volksaufstand, derdie polnische Besatzungszeit beendete. Nach dem Sieg über Napoleon wurde den beiden Anführern des Aufstands ein 8,8 Meter hohes Denkmal errichtet; es erinnert - wie es wörtlich in der Inschrift lautet: „… an den Bürger Minin und den Fürsten Poscharski", die Anführer des Volksaufstandes gegen die polnische Intervention 1611 und ihren Sieg über die Polen 1612. Dazu waren zwei Runden russischer Masseneinberufung nötig, um den Kreml von den Polen zurückzuerobern und allmählich die Ordnung wiederherzustellen.
Denkmal für Minin (stehend) und Poscharski (sitzend) auf dem Roten Platz in Moskau, direkt vor der Basilius-Kathedrale
Am 4. November 1612 wurde Moskau von der polnischen Besatzung befreit. Dieser Tag wurde unter Präsident Putin 2005 wieder als Gedenktag festgelegt.
Im Jahr 1613 wählten Russen aus allen Schichten der Gesellschaft den "rechtmäßigen" Zaren Michail Romanow und fünf Jahre später wurde mit dem Vertrag von Deulino 1618 Frieden mit den westlichen Ländern geschlossen. Polen-Litauen wurden territoriale Zugeständnisse gemacht - es erreichte damit seine größte territoriale Ausbreitung, während das Russische Zarenreich seine Unabhängigkeit sichern konnte.
Für viele Russen ist der Polnisch-Russische Krieg von 1609-1618 unvergessen. Leider hat Subok weite Teile dieser Episode, vor allem die polnische Aggression und die Befreiung Moskaus von 1612 weitgehend ausgeklammert. Putin hätte in seiner kurzen Rede natürlich auch an die "Zeit der Wirren" erinnern können, ihm war aber der Hinweis auf 1917 wichtiger. So schlimm die "Zeit der Wirren" auch war, die Revolution von 1917 hat auf der einen Seite viel tiefere Einschnitte zur Folge, zum anderen standen hinter der Revolution nicht nur ein Nachbarland, sondern eine Kontinent-übergreifende westliche Koalition mit imperialen Interessen.
1812 Frankreichs Angriff auf Russland und die Konvention von Tauroggen
Am 24. Juni 1812 überschritt Napoleon der I. (1769-1821) mit seiner Grande Armée (ca. 350.000 Mann)(5) ohne Kriegserklärung die Grenze zum russischen Zarenreich und hoffte auf einen kurzen Feldzug mit einer raschen Entscheidungsschlacht, die den Willen des Zaren brechen und ihn an den Verhandlungstisch zwingen sollte. Nachdem die zurückgewichenen russischen Truppen Moskau anzündeten, trat im Oktober 1812 die auf rund 95.000 Mann zusammengeschrumpfte Hauptstreitmacht des Franzosenkaisers wieder den Rückzug aus Moskau (Richtung Westen) an.(6) Sie wurden fast alle Opfer des russischen Winters und der reorganisierten Armee des Zaren.
Ende Dezember 1812 überquerten die Reste der geschlagenen Armee die Grenze zu Russland in die entgegengesetzte Richtung.
Am 30. Dezember 1812 schlossen bei Tauroggen (Stadt in Litauen) der russische Feldmarschall Hans Karl von Diebitsch-Sabalkanski und der preußische Generalleutnant Johann David Ludwig von Yorck, Befehlshaber des preußischen Korps in Napoleons Armee, die in die Geschichte eingegangene "Konvention von Tauroggen". Zuvor hatte der damalige Kaiser von Russland Alexander der I. seinem General-Gouverneur von Riga, F.O. Paulucci, befohlen, dem „Generalleutnant von Yorck mitzuteilen, dass das Russische Kaiserreich im Falle des Übergangs Preußens auf die russische Seite die Waffen so lange nicht niederlegen werde, bis Preußen in den Grenzen von 1806 wiederhergestellt sei."(7)
König Friedrich Wilhelm der III. von Preußen missbilligte die Insubordination seines Generals und gab Befehl, Yorck zu verhaften und vor ein Kriegsgericht zu stellen. Nachdem der Preußenkönig die Niederlage Napoleons in Russland erkannt hatte, setzte sich Friedrich Wilhelm der III. an die Spitze der Freiheitskämpfer.
Ein nochmaliges Tauroggen wird der Westen zu verhindern wissen. Vor diesem Hintergrund muss auch der Stabwechsel von Deutschland an Polen verstanden werden. Polen ist nun der geopolitische Anker des US-Flugzeugträgers Europa.
1917 deutsch-angloamerikanische Revolution in Russland
Die Katastrophe des 20. Jahrhunderts entwickelte sich aus dem erfolgreichen Attentat am 28. Juni 1914 auf den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo, der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina.
Keine 24 Stunden später wurde im Dorf Pokrowskoje im Gouvernement Tobolsk der am Zarenhof wirkende Wunderheiler und Friedensprediger Grigori J. Rasputin bei einem Attentat lebensgefährlich verletzt und musste bis zum 20. August 1914 im Krankenhaus verbleiben. Von dort aus schickte er an die 20 Telegramme an den Zarenhof. Das erste lautete: „Schwarze Wolken über Russland: Not, viel Leid, kein Hoffnungsschimmer… ich weiß, alle wollen von dir den Krieg, auch die Treuen, die nicht wissen, dass er der Untergang ist… Du bist der Zar … Lass die Irren nicht triumphieren und sich und das Volk zugrunde richten. Alles wird in einem Blutbad untergehen."(8)
Sowohl die Drahtzieher des Attentats in Sarajewo – 1917 versprachen die Briten der serbischen Regierung mit der "Konvention von Korfu" einen südslawischen Vielvölkerstaat (das spätere Jugoslawien) als Nachfolger von Österreich-Ungarn – als auch der Entente ging es u.a. um die Zerschlagung des Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn und darum, einen Europa dominierenden deutschsprachigen Raum zu verhindern.
Am 30. Dezember 1916 fiel Rasputin dann endgültig einem Attentat zum Opfer. Er hatte Friedensfühler ausgestreckt, was bei den Briten Besorgnis erregte. So geriet Rasputin in das Visier der Chefs der britischen MI6-Mission in St. Petersburg. Über die Ermordung Rasputins kursieren verschiedene Gerüchte. Sowohl der Duma-Abgeordnete Wladimir Purischkewitsch als auch Felix Fürst Jussupow reklamieren die Todesschüsse für sich. Ende der 1990er Jahre brachte der britische Historiker Andrew Cook die englische Version der Geschehnisse in Umlauf, wonach britische Geheimagenten hinter dem Mord gestanden haben sollen: Nach Aussage der Tochter des britischen Geheimdienstlers Oswald Rayner (1888-1961), ein enger Freund Jussopows, hat ihr Vater Rasputin mit einem aufgesetzten Schuss in die Stirn liquidiert. Wenige Wochen nach Rasputins Tod kam es am 27. Februar 1917 zur "Februar-Revolution", die Russland unter einer großbürgerlichen Regierung unter Fürst Georg J. Lwow noch bis zur bolschewistischen Revolution im Oktober 2017 im Lager der Allliierten belassen sollte. Die USA erkannten nur vier Tage später als erster Staat die neue Regierung an. US-Präsident Woodrow Wilson war von der Subversion in Russland und dem Sturz des alten Zarentums fasziniert und begrüßte die neue Republik als passenden Partner der "Ehrenlegion". Die "Februar-Revolution" von 1917 als erster "Regime-Change" der Geschichte?
Über die folgende bolschewistische Revolution wurde am 29. Juni 2023 in APOLUT Tages-gespräch unter der Überschrift "Rückblick auf 1917 und die deutsch-amerikanischen Drahtzieher"(9) ausführlich berichtet.
1920 Polens wiederholter Angriff auf seinen östlichen Nachbar
Mit Kriegsende 1918 entstand auf dem Gebiet des Königreichs Polen die "Zweite Polnische Republik". Diese begann unverzüglich, die Nachbarn mit Krieg zu überziehen. Gehalten hat sich aber nur der Mythos vom "Wunder an der Weichsel": Mitte August 1920 stand der sowjetische Reitergeneral Michail Tuchatschewski mit seiner Armee vor den Toren Warschaus. Mit Unterstützung Frankreichs führte Marschall Jósef Pilsudski den Gegenangriff und drängte die sowjetischen Kräfte bis weit in die Ukraine zurück. Der anschließend in Riga (18. März 1921) erzwungene Friedensschluss (die Sowjets waren durch die Konterrevolution geschwächt) verlegte die am 8. Dezember 1919 festgelegte polnisch-russische Grenze ("Curzon-Linie") um ca. 200 km nach Osten. Die Bevölkerung zwischen der alten und der nun neuen polnisch-russischen Ostgrenze (im sogenannten Ostpolen) umfasste etwa 6 Millionen Ukrainer und Weißrussen, etwa 1,4 Millionen Juden und nur etwa 1,5 Millionen Polen.(10) In dem Narrativ vom "Wunder an der Weichsel" wird unterschlagen, dass Ende 1919 die polnischen Truppen unter Marschall Pilsudski und die sie unterstützenden ausländischen militärischen Verbände bis nach Kiew vorstoßen konnten. Diese Erfolge wurden bald durch die sowjetische Rote Armee zunichte gemacht: Sie warf die polnische Armee so weit in das Landesinnere Polens zurück, dass eine Besetzung Polens drohte.(11) Parallel zum polnisch-sowjetischen Krieg überfiel Polen Litauen und eroberte im Oktober 1920 die litauische Hauptstadt Vilnius (polnisch Wilno).
1941 Deutschlands Angriff auf Russland
Unter dem Decknamen "Operation Barbarossa" eröffnete am 22. Juni 1941 das Deutsche Reich auf breiter Front mit knapp über 3 Millionen Soldaten zwischen der Ostsee und den Karpaten den Krieg gegen die offensichtlich überraschte Sowjetunion. Das wird in einigen Kreisen als Indiz gesehen, dass die Wehrmacht einem sowjetischen Angriff zuvor-gekommen sei. Nachdem Hitler in "Mein Kampf" mehrfach der Eroberung von "Lebensraum im Osten" das Wort sprach, wäre das sogar nachvollziehbar. Dem vermeintlichen Kampf gegen den Bolschewismus schlossen sich 600.000 Mann aus den verbündeten Staaten Ungarn, Rumänien, Finnland, Slowakei und Italien an.(12)
Anfang September 1941 schnitt die von Ostpreußen durch die baltischen Staaten vorgerückte "Heeresgruppe Nord" Leningrad von sämtlichen Landverbindungen ab. Die persönlich von Hitler angeordnete Blockade Leningrads gehört zu den eklatantesten Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg - über 1 Million Menschen sterben (darunter auch Familienangehörige von Putin). Hitler wollte die 2,5 Millionen Einwohner nicht versorgen: „Der grausame Hungertod der Leningrader ist Teil des Kalküls"(13), so der Historiker Daniel Niemetz.
Ebenso erschütternd ist die Behandlung der russischen Kriegsgefangenen. Der Historiker Christian Streit bezifferte die Gesamtzahl der sowjetischen Kriegsgefangenen in seiner grund-legenden Studie „Keine Kameraden" (1978) mit 5,73 Millionen Personen, von denen etwa 3,3 Millionen umgekommen seien. Seine Angaben wurden von späteren Autoren meist über-nommen und sind inzwischen geradezu ins öffentliche Bewusstsein übergegangen(14).
1949 / 2014 US-Kriegspläne gegen die Sowjetunion/Russland
Nach der Methode „Haltet den Dieb" unterlassen die USA, deren kriegerische Auseinander-setzungen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte ziehen (von den Indianer-, den Unabhängigkeitskriegen bis zum erst 2021 beendeten Afghanistan-Krieg) nichts, um Russland als aggressives Land zu brandmarken. Im Gegensatz zu Russland liegen die USA geografisch in einer sicherheitspolitischen Komfortzone: im Osten der Atlantik, im Westen der Pazifik, im Norden Kanada und im Süden Mexiko.
Eine kleiner Rückblick auf die letzten 78 Jahre:
- Zum 1. Juli 1945 sollte mit dem von Winston Churchill in Auftrag gegebenen Kriegsplan „Operation Unthinkable" die damalige Sowjetunion zurückgeworfen und ein unabhängiges Polen wiederhergestellt werden.(15)
- Anfang September 1945 beauftragte US-Präsident Harry S. Truman den damaligen US-Armeegeneral Dwight D. Eisenhower mit der "Operation Totality". Mit 20 bis 30 Atombomben sollten 20 sowjetische Industriestädte auf einen Schlag vernichtet werden. Derartige Pläne wurden ständig verfeinert.(16)
- 1946 wurden im Rahmen der Operation Sunrise etwa 5.000 antikommunistische osteuropäische und russische Mitarbeiter für operative Einsätze ausgebildet. Diese und ähnliche Initiativen unterstützten Aufstände in Gebieten wie der Ukraine, die von den Sowjets erst 1956 vollständig unterdrückt wurden.(17)
- Am 15. Mai 1947 verkündete Truman seine Doktrin zur Eindämmung der weiteren Ausdehnung der Sowjetunion.
- Am 6. Juni 1947 folgte der Marshallplan. Er hatte das Ziel, Westeuropa gegen den Ostblock zu stärken und der noch vom Krieg überhitzten amerikanischen Wirtschaft Absatzmärkte zu öffnen.
Mit Annahme der Hilfe mussten die Länder ihre finanzpolitische Souveränität an Washington abtreten - das war der Beginn der ökonomischen Kolonisierung Europas, die gar nicht viel kostete (zwischen 1948 und 1952 flossen nur ca. 15 Mrd. US-Dollar).
- Am 26. Juli 1947 wurde der »National Security Act« für die militärische Durchdringung der Welt verabschiedet, eines der wichtigsten Gesetze der US-amerikanischen Nachkriegsgeschichte. Er ist bis heute die Grundlage weltweiter amerikanischer Militärmacht. Es galt, Europa für den Krieg gegen die Sowjetunion tauglich zu machen.
- Am 4. April 1949 wurde die NATO offiziell als Verteidigungsbündnis gegen die Sowjetunion gegründet. Der erste Generalsekretär der NATO und Chefplaner von Unthinkable, Lord Ismay, formulierte salopp die Aufgabe der NATO: »… die Russen draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten«(18). Im Bündnisvertrag wurde festgehalten, dass wirtschaftlicher Wiederaufbau und wirtschaftliche Stabilität wichtige Elemente der Sicherheit seien - daher der Marshall-Plan.
- Am 19. Dezember 1949 verabschiedeten die USA den Kriegsplan »Dropshot«, mit dem 1957 die Sowjetunion angegriffen werden sollte. In der »Grundannahme« heißt es wörtlich: »Am oder um den 1. Januar 1957 ist den Vereinigten Staaten durch einen Aggressionsakt der UdSSR und/oder ihrer Satelliten ein Krieg aufgezwungen worden.« Daraufhin sollten 300 Atombomben und 29.000 hochexplosive Bomben auf 200 Ziele in 100 Städten abgeworfen werden, um 85 Prozent der industriellen Kapazität der Sowjetunion mit einem einzigen Schlag zu vernichten. Der Zeitpunkt war zweifellos auf den ursprünglich geplanten Abschlusstermin der Remilitarisierung.
- Mit der "National Security Decision Directive 54" (NSDD-54) vom 2. September 1982 wurde ein Instrument geschaffen, mit dem der gesamte Sowjetblock subversiv unter-graben werden konnte. Ein Staat nach dem anderen wurde mit dem Versprechen amerikanischer Unterstützung zur Ablösung von der Sowjetunion veranlasst. Neben destruktiven Operationen („Unterminierung der Militärkapazitäten des Warschauer Paktes") wurden ökonomische Anreize geschaffen, vor allem die Aussicht auf Kredite und kulturell-wissenschaftlichen Austausch.(19)
In den 1990er Jahren installierten die USA in Russland unter Präsident Jelzin eine "Klientel-Oligarchie", die Russland ausplündern konnte.(20)
Als Weiterentwicklung und Ergänzung dienen die Langzeitstrategiepapiere TRADOC 525-5 von 1994 und 525-3-1 ("Win in a Complex World 2020-2040") von 2014.
Gezielt wurden Russland und China als bedrohliche Feinde aufgebaut, um die militärische Schutzmacht USA durch die NATO und durch verschiedene asiatische Verteidigungsbündnisse zu etablieren. Schon 1945 orakelte der US-Philosoph James Burnham 1945, die USA seien dazu berufen, „in der Auseinandersetzung mit den anderen Supermächten die Weltmacht zu erringen".(21)
Wie wird es weitergehen?
Vermutlich mit weiteren Provokationen und Anschlägen sowie dem Versuch, einen neuen "Jelzin" zu installieren, wobei es so aussehen soll, dass der Umsturz aus Russland selbst kommt und nicht in Verbindung mit dem Westen gebracht werden kann.
Die Foreign-Affairs-Kommentatoren Liana Fix and Michael Kimmage sehen in ihrem Artikel „The Beginning of the End for Putin?" vom 27. Juni 2023 in den bisher angedeuteten Analogien - 1604, 1919 oder 1991- eine viel bessere Variante:
Prigoschin sollte in die Rolle von Stenka Rasin versetzt werden, „einem Rebellen gegen die zaristische Macht, der 1670/71 ein Bauernheer aufstellte und versuchte, von Südrussland aus auf Moskau zu marschieren. … Er hatte Schwächen in der zaristischen Regierung seiner Zeit aufgedeckt und in den folgenden Jahrhunderten ließen sich andere von seiner Geschichte inspirieren. Für Russlands Autokraten ist sie eine klare Lektion: Selbst eine erfolglose Rebellion legt den Grundstein für künftige Versuche."(22)
In dieser Analogie zu Stenka Rasin taucht kein westlicher Einfluss auf.
Die Menschen im globalen Süden sind jedoch nicht mehr zu täuschen. Sie versuchen, „… eine unabhängige und friedlich ausgehandelte Entscheidung darüber zu treffen, welche Art von internationaler Ordnung sie wollen. Ihr Ziel ist es nicht nur, Alternativen zur Verwendung von Dollars zu schaffen, sondern eine ganze Reihe neuer institutioneller Alternativen zum IWF und zur Weltbank, zum SWIFT-Bankenclearing-System, zum Internationalen Strafgerichtshof und zu all den Institutionen, die US-Diplomaten von den Vereinten Nationen gekapert haben"(23), so der US-Ökonom Michael Hudson. Für ihn wird das Ergebnis von zivilisatorischer Tragweite sein: „Wir erleben nicht das Ende der Geschichte, sondern eine neue Alternative zum US-zentrierten neoliberalen Finanzkapitalismus und seiner Junk-Ökonomie der Privatisierung."(24)
Wie kann einer derart das Völkerrecht missachtenden US-Politik Einhalt geboten werden? Die UN ist dazu anscheinend nicht in der Lage. So muss die Völkergemeinschaft - Völkerbund 1919 und UN 1945 waren aus dem Denken des Krieges entstanden - endlich zu einer Gemeinschaft finden, die im Geist des Friedens entsteht.(25) Sie muss in der Lage sein, jede friedensfeindliche Politik zu sanktionieren und dem Selbstbestimmungsrecht der Menschen Priorität einräumen.
Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, erhielt als Pionierhauptmann beider Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete„atomare Gefechtsfeld" in Europa. Nach zwölfjähriger Dienstzeitstudierte er in München Politikwissenschaft sowie Höheres Lehramt(Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Seitdem publiziert er zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik.
Zuletzt erschienen vom ihm
- „Schwarzbuch EU & NATO"(2020) sowie
- "Die unterschätzte Macht" (2022)
Quellen und Anmerkungen
1) Wladislaw M. Subok: "Russia's New Time of Troubles
It's Not 1917 in Moscow—It's 1604"unter https://www.foreignaffairs.com/russian-federation/russias-new-time-troubles
2) Alois Woldan: Die Belagerung der Stadt Pskov in der russischen und polnischen historiographischen Literatur. In: Wiener Slavistisches Jahrbuch. Band 43, 1997, S. 259–272.
3) Vgl. Sabine Dumschat: Ausländische Mediziner im Moskauer Russland.
4) Der Vulkan Huaynaputina liegt in der Cordillera Volcánica / Region Moquegua im Süden Perus.
5) Napoleons Armee bestand neben Franzosen überwiegend aus Soldaten unterworfener und verbündeter Nationen, vor allem aus Deutschen, Polen, Österreichern, Italienern, Schweizern, Holländern, Spaniern und Portugiesen
6) https://www.dhm.de/lemo/rueckblick/napoleons-russlandfeldzug-1812.html
7) Der Text des Rescripts wurde 2013 im Katalog der Ausstellung „Und Frieden aller Welt gebracht – Russisch-Preußischer Feldzug 1813–1814" in der Russischen Botschaft in Berlin aus russischer Quelle dargestellt
8) Zitiert wie Wolfgang Effenberger/Willy Wimmer: Wiederkehr der Hasardeure, Höhr-Grenzhausen 2014, S. 166/167
9) https://apolut.net/chronik-eines-angekuendigten-putsches-von-wolfgang-effenberger/
10) Nach Angaben auf Grund polnischer Quellen ("Polen. Deutschland und die Oder-Neiße-Grenze; Ostberlin, 1959, S. 863, 928 f.)
11) Norman Davies: White Eagle – Red Star. The Polish Soviet War 1919–1920. Pimlico, London 1972, 2004
13) https://www.mdr.de/geschichte/ns-zeit/leningrader-blockade-100.html
14) Vgl. Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945, Stuttgart 1978, S. 244 ff.
15) Antony Beevor: Der Zweite Weltkrieg. 1. Auflage. München 2014, S. 866 f.
16) Bereits im Herbst 1945 sah der Plan mit Namen TOTALITY (JIC 329/1) einen Atomangriff auf die Sowjetunion mit 20 bis 30 Atombomben vor. Details in Kaku/ Axelrod 1987, S. 30–31.
17) https://irp.fas.org/world/germany/intro/gehlen.htm
18) https://internationalepolitik.de/de/nordatlantische-allianz
19) https://irp.fas.org/offdocs/nsdd/nsdd-54.pdf
20) https://globalsouth.co/2023/06/28/scoop-michael-hudson-america-has-just-destroyed-a-great-empire/
21) Zitiert wie www.dradio.de/dkultur/sendungen/kalenderblatt/439652/
23) https://globalsouth.co/2023/06/28/scoop-michael-hudson-america-has-just-destroyed-a-great-empire/
24) Ebda.
25) Wolfgang Effenberger: Reformvorschlag der G4-Staaten (Brasilien, Deutschland, Indien und Japan) in Bezug auf eine Erweiterung des Sicherheitsrats vor dem Hintergrund der geopolitischen Interessen der USA unter https://www.zeitgeist-online.de/exklusivonline/9-allgemeines/sonstiges/967-der-reformvorschlag-der-g-4-staaten-brasilien-deutschland-indien-und-japan-in-bezug-auf-eine-erweiterung-des-sicherheitsrats-vor-dem-hintergrund-der-geopolitischen-interessen-der-usa.html