Wolfgang Effenberger
Als Kontrapunkt zum teilweise Hoffnung machenden Foreign-Affairs-Artikel des ehemaligen britischen Außenministers David Miliband bot Foreign Affairs nun auch dem amtierenden ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba (*1981) eine mediale Plattform, seine Forderung nach Aufnahme der Ukraine in die NATO als alternativlos zu bezeichnen.
Eingangs begrüßte Kuleba die mit dem NATO-Beitritt Finnlands einhergegangene „Verschiebung auf der tektonischen Platte der europäischen Sicherheit", die erst dann vollständig sein werde, wenn die Ukraine vollwertiges Mitglied der NATO ist. Nun folgt der Hinweis, dass Präsident Wladimir Putin versucht, „die Grundlagen der nach 1945 geschaffenen europäischen Sicherheitsordnung zu zerstören"(1).
Zum Verständnis der heutigen Situation ist ein Blick in den Rückspiegel nötig:
Während sich am 25. April 1945 in Torgau amerikanische wie russische Soldaten auf der zerstörten Elbbrücke die Hände reichten und damit die Hoffnung auf einen dauer-haften Frieden nährten, arbeiteten britische Generalstabsoffiziere bereits an dem von Winston Churchill in Auftrag gegebenen Kriegsplan „Operation Unthinkable",
der die damalige Sowjetunion zurückwerfen und ein unabhängiges Polen wiederherstellen sollte. Angriffstermin mit über 100 Divisionen, darunter auch Wehrmachtsverbände, die man nicht in die Kriegsgefangenschaft schickte, war der 1. Juli 1945: Keine 10 Wochen nach dem Handschlag.
Zu diesem Angriff kam es nicht, da Stalin rechtzeitig ultimativ forderte, die neben dem britischen Hauptquartier in Flensburg-Mürwik einquartierte deutsche Nachfolgeregierung unter Dönitz zu verhaften und die deutschen Soldaten in die Gefangenschaft zu überführen. Das geschah dann auch am 23. Mai 1945.(2)
Nur wenige Tage nach den Abwürfen der A-Bomben auf Hiroshima und Nagasaki beauftragte US-Präsident Harry S. Truman Anfang September 1945 General Eisenhower mit der "Operation TOTALITY". Mit 20 bis 30 Atombomben sollten 20 sowjetische Industriestädte schlagartig vernichtet werden. Derartige Pläne wurden ständig verfeinert.
Am 26. Juli 1947 wurde der »National Security Act« für die militärische Durchdringung der Welt verabschiedet, eines der wichtigsten Gesetze in der US-amerikanischen Geschichte, das bis heute die Grundlage weltweiter amerikanischer Militärmacht darstellt.
Es ging darum, Europa für den Krieg gegen die Sowjetunion zu ertüchtigen.
Am 4. April 1949 wurde die NATO gegründet - offiziell als Verteidigungsbündnis gegen die Sowjetunion, die erst am 14. Mai 1955 (als Reaktion auf den NATO-Beitritt der Bundesrepublik Deutschland) den "Warschauer Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand" ins Leben rief.
Der erste Generalsekretär der NATO und Chefplaner von Unthinkable, Lord Ismay, formulierte salopp die wirkliche Aufgabe der NATO, nämlich »die Russen draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten«(3).
Im Bündnisvertrag wurde festgehalten, dass wirtschaftlicher Wiederaufbau und wirt-schaftliche Stabilität wichtige Elemente der Sicherheit seien - daher der Marshall Plan.
Bereits am 19. Dezember 1949 verabschiedeten die USA den Kriegsplan "Dropshot"(4), mit dem 1957 die Sowjetunion angegriffen werden sollte. Es hätte wie immer so aus-sehen sollen, als sei der Gegner der Aggressor. Die "Grundannahme" sei, so heißt es in dem streng geheimen Papier (1978 deklassifiziert) wörtlich: „Am oder um den 1. Januar 1957 ist den Vereinigten Staaten durch einen Aggressionsakt der UdSSR und/oder ihrer Satelliten ein Krieg aufgezwungen worden".(5)
Daraufhin sollten 300 Atombomben und 29.000 hochexplosive Sprengsätze auf 200 Ziele in 100 Städten der Sowjetunion abgeworfen werden, um 85 Prozent der dortigen industriellen Kapazität schlagartig zu vernichten. Der Zeitpunkt war zweifellos auf den ursprünglich geplanten Abschlusstermin der Remilitarisierung Westdeutschlands abgestimmt.
Nach der Auflösung des Warschauer Pakts und der Sowjetunion trat 1991dann ein osteuropäisches Land nach dem anderen der NATO bei, in der Erwartung finanzieller und wirtschaftlicher Hilfe.
Am 26. Februar 1992 rief das Parlament der Krim mit Zustimmung der ukrainischen Regierung die „Republik Krim" aus, die der Krim den Status einer selbstverwalteten Republik verlieh.
Am 31. Mai 1997 kam es zum Abschluss eines Freundschaftsvertrags zwischen der Ukraine und Russland. In diesem Vertrag nahm die Ukraine den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Grenzen auf und garantierte im Gegenzug - und das ist sehr wichtig - den Schutz der ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Eigenart der nationalen Minderheiten auf ihrem Gebiet.
Nachdem der Angriffs-Krieg gegen Restjugoslawien von der UN keine entsprechende Resolution erhalten hatte, schafften die USA im April 1999 nach dem völkerrechts-widrigen Krieg gegen Restjugoslawien auf dem Jubiläumsgipfel zum 50. Jahrestag ihres Bestehens neue Regeln jenseits der UN-Charta. Mit dem neuen Konzept (MC 400/2) konnte die NATO nun auch bei Krisen außerhalb des Bündnisgebietes ohne Mandat der Vereinten Nationen eingreifen. (6)
Seither sind für den "werteorientierten" Westen Völkerrecht und UN-Charta obsolet, es gelten jetzt die von Washington erfundenen Regeln einer sogenannten "wertebasierten" internationalen Ordnung, die außerhalb des Westens auf vehementen Widerstand treffen.
Nach 1999 wurde Nordafrika und der Nahe Osten mit völkerrechtswidrigen Kriegen überzogen, destabilisiert und in heilloses Chaos gestürzt, was eine nicht enden wollende Migrationswelle auslöste.
Und als Ende 2013 der gewählte Staatschef der Ukraine Janukowitsch die militärisch-politische Zusammenarbeit mit der EU (und damit mit der NATO) nicht unterschrieb, wurde er kurzerhand weggeputscht.
Als der gewählte ukrainische Präsident Janukowitsch im November 2013 den EU-Assoziierungsvertrag nicht unterschreiben wollte, setzte ihn der damalige EU-Außenbeauftragte (GASP) Barroso mit dem Hinweis unter Druck, dass ansonsten in wenigen Monaten der Nachfolger unterschreiben würde. Die Weigerung von Janukowitsch hatte mehrere Gründe. Einer war der Artikel 404: Darin sollte der Weg für „eine Lockerung der gängigen Zertifizierungspraktiken, gentechnisch verändertes Saatgut und Erleichterungen für die Agroindustrie " geebnet werden. Kein Wunder! Zählt doch die Ukraine zu den vielversprechenden Wachstumsmärkten für die Saatgutproduzenten Monsanto und DuPont.(7)
Am 23. Februar 2014 gingen die neuen Behörden in Kiew nicht nur aus einem Staats-streich hervor, der definitiv keine verfassungsrechtliche Grundlage hatte: Janukowitsch hatte weder einen Rücktritt eingereicht, noch war er verstorben und das ukrainische Parlament hatte für dessen Absetzung die nötigen 75% der Stimmen nicht erhalten. Die neue, nach ukrainischem Gesetz nicht legitime Regierung, hielt sich dann auch nicht mehr an die Garantie des Vertrags von 1997, indem sie das Kivalov-Kolesnichenko-Gesetz von 2012 über die Amtssprachen aufhoben.
Am 2. Mai 2014 begannen ukrainische Regierungsstreitkräfte im Osten der Ukraine militärisch gegen jene Volksgruppen vorzugehen, die mit dem Putsch und dessen Folgen nicht einverstanden waren. Am gleichen Tag setzte der rechte Block den jungen Demonstranten in Odessa nach, die im Gewerkschaftshaus Zuflucht suchten. Militante Kräfte des Rechten Blocks stürmten daraufhin das Gewerkschaftshaus und zündeten es an - mehrere Dutzend der Zufluchtssuchenden verbrannten dort im Treppenhaus (bis heute keine Untersuchung, geschweige denn eine Anklage), andere wurden erschossen, als sie aus dem Fenster springen wollten.
Gezielter Rückzug der USA aus allen während des Kalten Krieges geschlossenen Rüstungskontrollabkommen:
ABM-Vertrag (2002)
„Vertrag über den Offenen Himmel" (2018)
INF-Vertrag über nukleare Mittelstreckenraketen (2019).
Ziel der USA war es, ihre Startvorrichtung MK-41 für den Abschuss von ballistischen Raketen und von Atomraketen in Polen und Rumänien zu installieren.
Der Standort Radzikowo in Polen ist 800 Kilometer von der russischen Grenze und 1.300 Kilometer von Moskau entfernt. Da es praktisch keine Vorwarnzeit gibt, hätten die Russen auch keine Zeit gehabt, die Art einer abgefeuerten Rakete zu bestimmen, und wären daher gezwungen gewesen, präventiv mit einem Atomschlag zu reagieren.
Fazit: „die Grundlagen der nach 1945 geschaffenen europäischen Sicherheitsordnung" waren bereits lange vor dem 24. Februar 2022 zerstört.
Die ehemalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel schockierte in einem bei Zeit-online am 8. Dezember 2022 veröffentlichten Interview Russland mit der Aussage, dass das unter deutsch-französischer Vermittlung zustande gekommene Minsker Abkommen 2014 lediglich der Versuch war, „der Ukraine Zeit zu geben". Sie hat diese Zeit auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht"(8) (Merkels Aussage wurde später vom ehemaligen französischen Präsidenten Hollande bestätigt). Einen Tag nach Merkels Aussage äußerte sich Putin vor Journalisten in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek: „Ehrlich gesagt, war das für mich absolut unerwartet. Das enttäuscht. Ich habe offen gesagt nicht erwartet, so etwas von der früheren Bundeskanzlerin zu hören."(9) Es bestand vom Westen also nie die Absicht, die Verpflichtungen des Minsker Friedensplans umzusetzen. Der Minsker Friedensplan sah für den unter russischem Einfluss stehenden Osten der Ukraine (nach Beginn der Ukraine am 2. Mai 2014 eröffneten Kampfhandlungen 2014) weitreichende Verpflichtungen für die Konfliktparteien vor, die aber nie umgesetzt wurden.
Noch am 10.02.2022 - also 14 Tage vor dem russischen Angriff - bezeichnete der französische Präsident Macron das Minsker Abkommen als den vielversprechendsten Weg zur Abwendung des Krieges. Er sagte, dass „die gemeinsame Entschlossenheit [zur Umsetzung des Minsker Abkommens] der einzige Weg ist, der es uns erlaubt, Frieden zu schaffen und eine tragfähige politische Lösung zu finden".(10)
Damit lag Macron auf der Linie der "Gemeinsamen Erklärung der USA und Deutschlands zur Unterstützung der Ukraine, der europäischen Energiesicherheit und unserer Klimaziele", die am 21. Juli 2021 von US-Präsident Biden und der deutschen Kanzlerin Merkel unterzeichnet worden war. Darin sichern die Vereinigten Staaten ihre Unterstützung für die Bemühungen Deutschlands und Frankreichs zu, Frieden in der Ostukraine im Rahmen des „Normandie-Formats" (halb-offizielle Kontaktgruppe, vornehmlich auf Regierungs- und Außenministerebene, zwischen Russland, Deutsch-land, Frankreich und der Ukraine) zu erreichen: „Deutschland wird seine Anstrengungen innerhalb des Normandie-Formats intensivieren, um die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen zu ermöglichen".(11)Doch weder die Regierung Merkel noch die Regierung Scholz hat sich an die Aufforderung gehalten. In der APOLUT-Ausgabe vom 10. November 2022 stellte der Verfasser dieses Artikels zwei Fragen: Sollte die Erklärung „vielleicht nur von den laufenden Kriegsvorbereitungen der USA und der NATO an der "Ostflanke" ablenken? Warum soll die deutsche Bevölkerung leiden, wenn ihre politische Elite unfähig oder unwillig ist, sich für die Umsetzung eines von ihr selbst initiierten Friedensabkommens zu sorgen?"(12)
Und keine vier Wochen später die unglaubliche Offenbarung der Alt-Bundeskanzlerin Merkel. Doch ein Aufschrei seitens der Politik, Medien, Kultur und Kirchen blieb aus.
Es wird lange dauern, bis wieder ein Vertrauensverhältnis zwischen Russland und dem Westen entstehen kann.
In seinem Foreign-Affairs-Artikel erinnert Kuleba an den NATO-Gipfel 2008 in Bukarest, auf dem das Bündnis bekundete, die Tür zur Mitgliedschaft der Ukraine offen zu halten, aber nur unter der Voraussetzung, dass die Ukraine nicht in absehbarer Zeit die Schwelle zur NATO verdunkelt. „Drei Kriege später - 2008 in Georgien, 2014 in der Ukraine und jetzt wieder in der Ukraine - ist klar, dass Zweideutigkeit Putins bester Verbündeter ist", so Kuleba, der immer noch die Notwendigkeit sieht, den Krieg auf dem Schlachtfeld zu gewinnen. „Was wir fordern, ist ein konkreter Zeitplan für den Beitritt der Ukraine zur NATO".
Auf dem bevorstehenden Sommer-Gipfel des Bündnisses in Vilnius (Litauen) „sollten die NATO-Mitglieder Russland schriftlich signalisieren, dass das Spiel vorbei ist: Die Ukraine ist Teil des Westens, sie steht an der Türschwelle zur NATO und sie wird bald durch diese Tür gehen." Kuleba verweist auf die Millionen Ukrainer, die heute ihre Fähigkeiten im blutigsten Krieg des 21. Jahrhunderts in Europa trainieren, um morgen die kollektive Sicherheit der NATO zu stärken: „Die Ukraine braucht die NATO und die NATO braucht die Ukraine". Doch wozu sollte die NATO die Ukraine brauchen? Doch nur als Rammbock gegen Russland. (13)
Seit dem Maidan-Putsch 2014 und erst recht nach dem 24. Februar 2022 hat die amerikanisch-europäische Zusammenarbeit auf EU- und NATO-Ebene stark zugenommen (Manöver Defender Europe, PESCO-Abkommen etc.). Die Anhörung von US-Generalleutnant Keith Kellogg, Co-Vorsitzender des Zentrums für amerikanische Sicherheit am America First Policy Institute, durch Senator Scott im US-Senat am 28. Februar 2023 gibt tiefe Einblicke in die Denkweise von verantwortlichen US-Politikern. „Wir müssen sicherstellen, dass die Ukrainer gewinnen", so US-Senator Scott, der dann General Kellogg fragt: „Warum hat Deutschland nicht eingegriffen? Ich weiß nicht, wie nah die ukrainische Grenze zu Deutschland ist. Aber warum hat Deutschland nicht seinen Teil zur tödlichen Hilfe beigetragen?" Darauf antwortete General Kellogg: „Ich glaube, Deutschland spielt in Europa im Moment keine Rolle."(14)
Das Deutschland im Konzert der Großen keine Rollte mehr spielt und dabei sogar inzwischen von Polen überflügelt wird, dürfte kaum in Zweifel gezogen werden. Trotzdem ist Deutschland mit seinem Beitrag zur tödlichen Hilfe durchaus ein Musterknabe:
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat Deutschland der Ukraine bereits Hilfen im Gesamtwert von rund 16,8 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt – als humanitäre Unterstützung, direkte Zahlung oder in Form von Waffen. (15) Und als der ukrainische Präsident Selenskyj am 14. Mai 2023 kurz nach Mitternacht in Berlin landete, erwartete ihn eine Morgengabe im Wert von 2,7 Milliarden Euro. Unter anderem sollen 20 weitere Marder-Schützenpanzer, 30 Leopard-1-Panzer und vier Flugabwehrsysteme Iris-T SLM, 18 Radhaubitzen, Munition für Artillerie und Luftverteidigungssysteme, mehr als 100 gepanzerte Gefechtsfahrzeuge und über 200 Aufklärungsdrohnen geliefert werden. (16) Das veranlasste Selenskyj gleich nach Landung in Berlin zu dem Twitter-Tweet: „Waffen. Mächtiges Paket. Luftabwehr. Wiederaufbau. EU. Nato. Sicherheit"(17). Im Anschluss an das Treffen mit Steinmeier empfing Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Selenskyj mit militärischen Ehren im Kanzleramt. Als Ergebnis des Treffens bekräftigte Deutschland in einer gemeinsamen Erklärung an, „mehr als 11 Milliarden Euro für 2023 und darüber hinaus" für die Militärhilfe der Ukraine vorgesehen zu haben.(18)
Bachmut zum Jahrestag von Mariupol gefallen -Selenskyi bekommt noch mehr Waffen
Am Sonntagmorgen, den 20. Mai 2023, wurde gegen 8 Uhr von web.de von schweren Kämpfen im Osten der Ukraine berichtet. Nach ukrainischer Darstellung gewannen eigenene Truppen bei Gegenangriffen um die Stadt Bachmut Gelände: „Der Feind setzt seine Sturmangriffe innerhalb der Stadt fort"(19), sagte der Sprecher der ukrainischen Heeresgruppe Ost, Serhij Tscherewatyj, im Staatsfernsehen. Die ukrainischen Einheiten dagegen setzten die russischen Truppen außerhalb der Stadt unter Druck und rückten dort weiter vor. Zwei Stunden später eine ähnliche Meldung bei gmx.net. Dort wurde verbreitet, dass nach Angaben britischer Geheimdienste Russland im Kampf in der Ostukraine seine Truppen in der Bachmut-Front verstärkt hat. Dies sei eine Reaktion auf taktische Geländegewinne der ukrainischen Verteidiger an den Flanken der umkämpften Stadt sowie auf öffentliche Drohungen der Söldnergruppe Wagner, den Kampf dort einzustellen.(20)
Wenige Stunden später wurde vom Chef der Söldnertruppe Wagner Jewgeni Prigoschin der Fall Bachmuts beganntgegeben und von Moskau bestätigt, während Kiew dementierte.(21)
Nachdem in den letzten Tagen die ukrainischen Verteidiger aus dem befestigten Gebiet der Zitadelle geworfen worden waren, befindet sich nun der westliche Rand der Stadt in russischer Hand. Kiews Truppen zogen sich über die Äcker zurück und halten eine Baumreihe zwischen Ivanivske und Bachmut. (22) Das Gros der Wagnertruppen in Bachmut ist nun frei und könnte an anderen Orten zum Einsatz kommen.
Während sich die ukrainischen Truppen aus Bachmut zurückzogen, kam ein hoffnungsvoller ukrainischer Präsident am Rand des G7-Gipfels in Hiroshima in bilateralen Treffen mit mehreren Staats- und Regierungschefs zusammen, darunter Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der britische Premierminister Rishi Sunak und der indische Ministerpräsidenten Narendra Modi. Bei dem britischen Premierminister Rishi Sunak bedankte sich Selenskyj für dessen Unterstützung bei der Bildung einer Koalition zur Lieferung westlicher Kampfjets. Wenige Tage zuvor hatten Großbritannien und die Niederlande erklärt, eine von Kiew seit langem gewünschte internationale Kampfjet-Koalition für Kiew aufbauen zu wollen.(23)
Nach Abschluss des G7-Gipfels in Hiroshima ließ sich US-Präsident Joe Biden vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj die "pauschale Zusage" geben, die F-16 nicht zu nutzen, um "in russisches geografisches Territorium" vorzustoßen.(24) Da die Krim aus Sicht Kiews und Washingtons kein russisches Territorium ist, muss mit verstärkten Angriffen auf die Krim gerechnet werden. Auch das wird die Wahrscheinlichkeit eines größeren und vor allem langen Krieges erhöhen. Ist es Ziel der USA, vor der russischen Haustür einen dauerhaften Konflikt "einzufrieren"?(25)
Der Fall Bachmuts wurde in den westlichen Medien heruntergespielt, dafür aber wurden neue Hoffnungen in die bevorstehende ukrainische Offensive geweckt. Die Hoffnung auf den Sieg stirbt wie immer zuletzt.
Für die Verbreiter westlicher Desinformationen ist Selenskyjs Auftritt in Hiroshima eine wunderbare Ablenkung von einem Krieg, der für Kiew eindeutig schlecht läuft, und insbesondere eine Ablenkung von der Gegenoffensive, die mit jedem Tag der russischen Militärschläge auf die Kommandozentralen und Waffenlager der ukrainischen Seite unwahrscheinlicher wird.(26)
Bei der Senatsanhörung am 28. Februar 2023 hatte General Kellogg dem Senator Scott noch vorgeschwärmt: „Wenn man einen strategischen Gegner besiegen kann und dabei keine US-Truppen einsetzt, ist man auf dem Gipfel der Professionalität, denn wenn man die Ukrainer siegen lässt, ist ein strategischer Gegner vom Tisch und wir können uns auf das konzentrieren, was wir gegen unseren Hauptgegner tun sollten, und das ist im Moment China….und wenn wir dabei scheitern, müssen wir vielleicht einen weiteren europäischen Krieg führen, das wäre dann das dritte Mal."(27)
Das bedeutet, dass ein Dritter Weltkrieg für US-Interessen billigend in Kauf genommen wird! Vor diesem Hintergrund ist es erfreulich, dass eine einflussreiche Gruppe amerikanischer Wissenschaftler, Analysten und Kommentatoren die Vereinigten Staaten drängt, ihr Engagement in Europa radikal zurückzufahren. Dieser Grundgedanke ist nicht neu: „Zurückhaltend orientierte Realisten wie Emma Ashford, John Mearsheimer, Barry Posen und Stephen Walt fordern seit langem, dass die Vereinigten Staaten ihre Sicherheitslage in Europa überdenken sollten."(28) Doch das dürfte bei weitem nicht ausreichen, da die USA unter dem Schlagwort angeblicher Sicherheitsinteressen weltweit ihre imperiale Machtpolitik durchsetzen. Erst wenn sie bereit sind, die Sicherheitsinteressen anderer Nationen (darunter auch die der EU-Länder) zu respektieren, kann es einen Weg in Richtung Frieden geben.
Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, erhielt als Pionierhauptmann bei der Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete „atomare Gefechtsfeld" in Europa. Nach zwölfjähriger Dienstzeit studierte er in München Politikwissenschaft sowie Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Seitdem publiziert er zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik. Zuletzt erschienen vom ihm
„Schwarzbuch EU & NATO" (2020)
sowie
"Die unterschätzte Macht" (2022)
Quellen und Anmerkungen
1) Why NATO Must Admit Ukraine
Kyiv Needs the Alliance and the Alliance Needs Kyiv
2) Antony Beevor: Der Zweite Weltkrieg. 1. Auflage. München 2014, S. 866 f.
3) https://internationalepolitik.de/de/nordatlantische-allianz
4) "DROPSHOT" - AMERICAN PLAN FOR WAR WITH THE SOVIET UNION, 1957
5) Wolfgang Effenberger: Die unterschätzte Macht Höhr-Grenzhausen 2022, S. 148
6) UNO-Mandat ist für Einsatz nicht unbedingt notwendig
https://www.deutschlandfunk.de/uno-mandat-ist-fuer-einsatz-nicht-unbeding-notwendig-100.html
7) Drucksache 18/3925 - 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode unter
https: //kleineanfragen.de/bundestag/18/3925-landgrabbing-in-der-ukraine.txt
9) Ebda.
10) https://edition.cnn.com/2022/02/09/europe/minsk-agreement-ukraine-russia-explainer-intl/index.html
11) https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/gemeinsame-erklaerung-usa-und-deutschland/2472074
12) https://apolut.net/der-pharisaeer-von-schloss-bellevue-von-wolfgang-effenberger/
13) Wolfgang Effenberger: Schwarzbuch EU & NATOWarum die Welt keinen Frieden findet. Höhr-Grenzhausen 2020. Überschrift des Kapitels Ukraine: Rammbock gegen Russland, S. 317-339
14) https://www.armed-services.senate.gov/hearings/to-receive-testimony-on-conflict-in-ukraine
15) https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=deutschlands+hilfen+an+die+ukraine
21) https://www.zdf.de/nachrichten/politik/prigoschin-wagner-bachmut-ukraine-krieg-russland-100.html
23) https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ukraine-selenskyj-teilnahme-g7-100.html
25) http://www.defenddemocracy.press/us-preparing-for-ukraine-war-to-become-a-frozen-conflict/
27) https://www.armed-services.senate.gov/hearings/to-receive-testimony-on-conflict-in-ukraine
28) Why America Still Needs Europe
The False Promise of an "Asia First" Approach
https://www.foreignaffairs.com/united-states/why-america-still-needs-europe?utm_medium=newsletters&utm_source=twofa&utm_campaign=The%20World%20Beyond%20Ukraine&utm_content=20230421&utm_term=FA%20This%20Week%20-%20112017