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17 Minuten Lesezeit (3431 Worte)

Umdenken in der "Elite" der US-Politik? - Ein aufschlussreicher Artikel in Foreign Affairs

Umdenken in der

Wolfgang Effenberger

Die US-Zeitschrift "Foreign Affairs" ist nicht gerade für eine kritische Diskussion amerikanischer Außenpolitik bekannt. In der Januar-/Februar 2023-Ausgabe der Hauspostille des US-Council on Foreign Relations erschienen denn auch wie erwartet kriegstreiberische Artikel vom Neokonservativen Robert Kagan, vom ehemaligen US-Botschafters in Moskau, Michael Anthony McFaul, und von anderen Hardlinern. Erstaunlicherweise konnte jedoch in der Mai-/Juni 2023-Ausgabe nun der frühere britische Politiker David Wright Miliband – er war von 2007 bis 2010 Außenminister des Vereinigten Königreichs und ist seit 2013 Präsident des "International Rescue Committee" mit Sitz in New York - den lesenswerten Artikel "Die Welt jenseits der Ukraine - Das Überleben des Westens und die Forderungen des Rests"(1) veröffentlichen.

Am Anfang seines Artikels zitiert Miliband die Aussage "Die Ukraine hat die Welt geeint" des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij in einer Rede zum ersten Jahrestag des Beginns des Krieges mit Russland und stellt folgerichtig fest:

„Der Krieg hat zwar den Westen geeint, aber er hat die Welt gespalten. Und diese Kluft wird sich nur vertiefen, wenn die westlichen Länder die Ursachen nicht beseitigen"; er gibt dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron recht, der auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2023 sagte: "Ich bin erstaunt, wie sehr wir das Vertrauen des globalen Südens verloren haben."(2)

Für Miliband geht die Kluft zwischen dem Westen und dem Rest der Welt deutlich über die Frage von Recht und Unrecht im Ukraine-Krieg hinaus. Sie sei vielmehr „das Ergebnis einer tiefen Frustration - in Wahrheit Angst - über das vom Westen geführte Missmanagement der Globalisierung seit dem Ende des Kalten Krieges. Aus dieser Perspektive wird die konzertierte westliche Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine, bei der der Westen gegen seine eigenen Regeln verstößt bzw. bei der er im Hinblick auf die Bewältigung globaler Probleme auffällig untätig war, in ein grelles Licht gerückt… Die Kluft zwischen den Perspektiven ist gefährlich für eine Welt, die mit enormen globalen Risiken konfrontiert ist. Und sie bedroht die Erneuerung einer auf Regeln basierenden Ordnung, die ein neues, multipolares Gleichgewicht der Kräfte in der Welt widerspiegelt."

Leider kommt im Text wiederholt die Forderung nach einer "auf Regeln basierenden Ordnung" vor. Dieser Terminus wird außerhalb der "westlichen Wertegemeinschaft" vehement abgelehnt.

Warum ist das so?

Regelbasierte Ordnung

Nach den beiden Weltkriegen und dem Kalten Krieg sind die Vereinigten Staaten von Amerika zum mächtigsten Land der Welt aufgestiegen und haben sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Pakts immer rücksichtsloser in die inneren Angelegenheiten anderer Länder eingemischt. Deutlich wurde dieses Vorgehen beim völkerrechtswidrigen Angriff auf Rest-Jugoslawien im März 1999 (ohne UN-Mandat). Kurzerhand wurde bereits in den ersten Kriegswochen, im April 1999 beim fünfzigjährigen Bestandsjubiläum der NATO in Washington, ein neues Konzept verabschiedet: die NATO-Strategie MC 400/2, die keine Verankerung im Völkerrecht und auch keine Zustimmung vom UNO-Sicherheitsrat hat. Die politisch brisanteste Änderung bestand darin, dass sich die USA und Großbritannien mit ihrer Forderung durchsetzten, NATO-Militärinterventionen auch ohne UN- Mandat durchzuführen.(3) Eine für die USA und Großbritannien folgerichtige Entscheidung, die seit dem 24. März 1999 auch konsequent zur Anwendung kommt. Seither sind UN und Völkerrecht für die USA obsolet. Im Gefolge des Krieges gegen Jugoslawien entwickelten die USA ein hegemoniales Drehbuch, um „Farbrevolutionen" zu inszenieren, regionale Streitigkeiten anzuzetteln und sogar direkt Kriege unter dem Deckmantel der Förderung von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten zu beginnen.(4) Die Vereinigten Staaten klammern sich an die Mentalität des Kalten Krieges, haben die Blockpolitik verschärft und Konflikte sowie Konfrontationen geschürt. Sie haben das Konzept der "Nationalen Sicherheit" extensiv ausgelegt, Exportkontrollen missbraucht und einseitige Sanktionen gegen andere Länder verhängt. Internationales Recht legen sie sehr selektiv aus, indem sie es - je nachdem, ob es ihnen nützt oder nicht - entweder anwenden oder verwerfen. Zugleich haben sie versucht, dem Rest der Welt Regeln aufzuzwingen, die im Namen der Aufrechterhaltung einer „regelbasierten internationalen Ordnung" ihren eigenen Interessen dienen.(5)

Nach dem US-amerikanischen Völkerrechtler und ehemaligen UN-Beamten Alfred de Zayas - er war von Mai 2012 bis April 2018 unabhängiger Experte des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung - bleibt die UN-Charta eine Art Weltverfassung, die in der Realität allerdings weitgehend wirkungslos ist: „Mein Land, die Vereinigten Staaten, meint immer noch, es sei die Nummer eins, und so verlangen wir Sonderrechte für uns. Anstelle einer UN-Charta wollen wir unsere eigene regelbasierte Weltordnung, wobei wir damit unsere Regeln meinen, Regeln, die wir selber aufgestellt haben und der Welt aufzwingen".(6)

Miliband hebt in seinem Artikel hervor, dass die russische Invasion in der liberalen demokratischen Welt zu bemerkenswerter Einigkeit und Aktion geführt hat. „Westliche Regierungen haben die Ukraine mit enormen Lieferungen von Militärhilfe unterstützt. Finnland und Schweden streben eine baldige Aufnahme in die NATO an. Und Europa hat eine Politik der Gastfreundschaft gegenüber den acht Millionen ukrainischen Flüchtlingen innerhalb seiner Grenzen beschlossen"(7). Parallel dazu stellt Miliband fest, dass die Geschlossenheit und das Engagement des Westens jedoch anderswo keine Entsprechung findet und weist darauf hin, dass zu Beginn des Ukraine-Krieges die UN-Generalversammlung mit 141 zu 5 Stimmen bei 47 Abwesenheiten oder Enthaltungen für die Verurteilung der russischen Invasion stimmte. Miliband findet dieses Ergebnis mehr schmeichelhaft als trügerisch und zitiert das Analystenteam der "International Crisis Group": „Die meisten nichteuropäischen Länder, die für die Verurteilung der russischen Aggression im vergangenen März gestimmt haben, haben keine Sanktionen ergriffen. In der UNO das Richtige zu tun, kann ein Alibi dafür sein, in der realen Welt nicht viel gegen den Krieg zu unternehmen."(8)

Weiters verweist Miliband auf den Umstand, dass in einer Reihe von UN-Abstimmungen seit Beginn des Ukraine-Krieges sich rund 40 Länder, die fast 50 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren, regelmäßig der Stimme enthalten oder gegen Anträge gestimmt haben.

Im April 2022 enthielten sich 58 Länder bei einer Abstimmung über den Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat. Zwei Drittel der Weltbevölkerung leben in Ländern, die offiziell neutral sind oder Russland unterstützen. Für Miliband bilden diese Länder nicht eine Art Achse der Autokratie, sondern umfassen mehrere namhafte Demokratien wie Brasilien, Indien, Indonesien und Südafrika. Deren Verhalten würde vielmehr ein Symptom eines umfassenderen Syndroms erkennen lassen: „Wut über die wahrgenommene Doppelmoral des Westens und Frustration über den Stillstand der Reformbemühungen im internationalen System."(9)

Diesen Zustand brachte Anfang 2023 der angesehene indische Diplomat Shivshankar Menon auf den Punkt: "Entfremdet und verärgert sehen viele Entwicklungsländer den Krieg in der Ukraine und die Rivalität des Westens mit China als Ablenkung von dringenden Problemen wie Schulden, Klimawandel und den Auswirkungen der Pandemie."(10) Dabei dürfe man nicht vergessen, dass China, eine der wichtigsten Unterstützungsquellen Russlands, der größte Handelspartner von mehr als 120 Ländern in der ganzen Welt ist und sich als unnachgiebig gegenüber diplomatischen Beleidigungen erwiesen hat.

„Kritiker verweisen", so Miliband, „auf die von den USA geführten Kriege in Afghanistan und im Irak und behaupten, dass der Westen nicht von Prinzipien, sondern von Heuchelei geleitet wird. Die Unterstützung der USA für den Krieg der von Saudi-Arabien geführten Koalition im Jemen, der zu einer humanitären Krise in diesem Land geführt hat, wird als Beweis für die Doppelzüngigkeit in Bezug auf die Sorge um die Zivilbevölkerung angeführt. Es wird auch behauptet, dass der Westen weitaus mehr Mitgefühl für die Kriegsopfer in der Ukraine gezeigt hat als für die Opfer von Kriegen in anderen Ländern…..Der Westen hat seit der Finanzkrise von 2008 nicht gezeigt, dass er willens oder in der Lage ist, eine gleichberechtigte und nachhaltige globale Wirtschaftspolitik voranzutreiben oder die politischen Institutionen zu entwickeln, die für die Verwaltung einer multipolaren Welt geeignet sind"(11).

Die langwierigen Konflikte, die Klimakrise und die Pandemie hätten die Leitplanken völlig gelockert: „Mehr als 100 Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht vor Kriegen oder Katastrophen, um ihr Leben zu retten. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind heute 350 Millionen Menschen in humanitärer Not, während es vor zehn Jahren noch 81 Millionen waren. Mehr als 600 Millionen Afrikaner haben keinen Zugang zu Elektrizität. Das UN-Entwicklungsprogramm berichtet, dass 25 Entwicklungsländer mehr als 20 Prozent der Staatseinnahmen für den Schuldendienst ausgeben, wobei 54 Länder unter schweren Schuldenproblemen leiden. Und der ungleiche Zugang zu Impfstoffen zur Bekämpfung der Pandemie - eine Kluft, die besonders in der Anfangsphase der Einführung des Impfstoffs im Jahr 2021 eklatant ist - ist zu einem Aushängeschild für leere Versprechen geworden."(12)

Sollten die nächsten zwei Jahrzehnte so verlaufen wie die letzten beiden, die von verworrenen Prioritäten und gescheiterten Versprechen des Westens geprägt waren, wird nach Milibands Prognose Multipolarität im globalen System mehr bedeuten als nur wirtschaftlichen Wettbewerb: „Es wird bedeuten, dass die ideologischen Herausforderungen an die Prinzipien der westlichen Länder zunehmen und die Anreize für nicht-westliche Länder, sich mit dem Westen zu verbünden oder mit ihm zusammenzuarbeiten, abnehmen."(13)

Dieser treffsicheren Analyse folgt ein fataler Lösungsvorschlag: Die liberal-demokratischen Länder müssten - wenn sie sich mit dem Rest der Welt einlassen - ein auf Regeln basierendes globales System unterstützen und mit langfristiger strategischer Zielsetzung denken und handeln. Nun, das machen die USA seit über 100 Jahren. Die US-Strategen denken in großen Zeiträumen, wie im US-Strategiepapier TRADOC 525-3-1 "Win in a Complex World 2020 - 2040" vom September 2014 zu lesen ist. In diesem Sinn fordert leider auch Miliband: „Harte Macht in Form von militärischen Partnerschaften und Handelskooperationen wird für die Beziehungen des Westens mit dem Rest der Welt entscheidend sein."

Diese Forderung ist angesichts des stürzenden US-Imperiums höchst gefährlich: „Ein stürzendes Weltreich ist unberechenbar", schrieb Wolfgang Effenberger bereits 2018 in seinem Buch „Europas Verhängnis 14/18 – Die Herren des Geldes greifen zur Weltmacht".

„Heute haben wir es mit noch viel mächtigeren Interessensgruppen zu tun als Anfang des 20. Jahrhunderts … Auch die heutigen Globalisierungsstrategen und Finanzjongleure wollen unter dem Signum von Humanität, Frieden und Freiheit eine unipolare Welt mit einer alles kontrollierenden Welt-Regierung schaffen. Für uns kommt es darauf an, den Zusammenhang der immer gleichen Macht- und Profitinteressen zu durchschauen und für andere transparent zu machen, sodass sie nicht länger unter einer raffinierten humanitären Tarnkappe verschwinden können. Wir dürfen uns nicht emotionalisieren oder gar verängstigen lassen" schrieb Wolfgang Effenberger bereits 2018 in seinem Buch „Europas Verhängnis 14/18 – Die Herren des Geldes greifen zur Weltmacht".(14)

Effizienter Multilateralismus unter dem Schutzschirm der UN-Charta

Am 24. April 2023, dem Tag des internationalen Multilateralismus und der Diplomatie für den Frieden (der 24. April wurde durch eine Resolution der UN-Generalversammlung am 12. Dezember 2018 in den Kalender der denkwürdigen Tage aufgenommen), sprach in New York der russische Außenminister Sergei Wiktorowitsch Lawrow vor dem UNO-Sicherheitsrat zum Thema "Effizienter Multilateralismus via Schutz der Prinzipien der UN-Charta".

Da Lawrows eindrucksvolle Rede im Westen weitgehend unbeachtet blieb und die USA die russischen Massenmedien von der Berichterstattung ausgeschlossen hatte, soll hier die Rede, die durchaus in einem Spannungsfeld mit dem Artikel von Miliband steht und in deutlichen Worten die UN-Charta gegen die sogenannte «regelbasierte Ordnung» verteidigt, entsprechende Berücksichtigung finden.

Eingangs würdigte Lawrow das vor Jahrzehnten gewachsene Verständnis der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats für die Prinzipien der Charta mit dem Ziel einer globalen Sicherheit. Daraus entwickelte sich eine vielseitige Zusammen-arbeit, die durch allgemein anerkannte Völkerrechtsnormen geregelt war.

Inzwischen sieht Lawrow das UN-zentrische System in einer tiefen Krise. Grund dafür sei das Streben einzelner Mitglieder der Organisation, das Völkerrecht und die UN-Charta durch eine "auf Regeln beruhende Ordnung" zu ersetzen:

„Diese ‚Regeln' hat niemand gesehen, sie waren nicht der Gegenstand der transparenten internationalen Verhandlungen. Sie werden zur Bekämpfung natürlicher Prozesse der Bildung neuer selbstständiger Zentren der Entwicklung, die gerade einen objektiven Multilateralismus darstellen, genutzt"(15), so Lawrow.Mit illegitimen einseitigen Maßnahmen, darunter Sperrung des Zugangs zu modernen Technologien und Finanzdienstleistungen, Verdrängung aus Lieferketten, Beschlag-nahmung des Eigentums, Vernichtung der kritischen Infrastruktur der Konkurrenten, Manipulationen mit allgemein abgestimmten Normen und Verfahren, versuche der Westen der Multipolarität entgegen zu steuern. Das führe zur Fragmentierung des Welthandels, zur Zerstörung der Marktmechanismen, zur Lahmlegung der "World Trade Organization" (WTO) und zur endgültigen Verwandlung des "Internationalen Währungsfonds" (IWF) in ein Instrument zum Erreichen der Ziele der USA und ihrer Verbündeten, darunter militärische Ziele. Washington und der ihm untergeordnete restliche Westen würde seine "Regeln" jedes Mal einsetzen, wenn man illegitime Schritte gegen jene, die ihre Politik gemäß dem Völkerrecht aufbauen und sich weigern, den Interessen der "goldenen Milliarde" zu folgen, rechtfertigen soll. Nichteinverstandene werden nach dem Prinzip - "wer nicht mit uns ist, ist gegen uns"- auf schwarze Listen gesetzt.

Für Lawrow wird mit dem Aufdrängen der "auf Regeln basierenden Ordnung" das wichtigste Prinzip der UN-Charta negiert, nämlich die souveräne Gleichheit der Staaten verletzt. In der "stolzen" Erklärung des EU-Chefdiplomaten Josep Borrell darüber, dass Europa ein Garten im Paradies und die restliche Welt ein Dschungel sei, sah Lawrow einen Höhepunkt der "Ausschließlichkeit". Weiter verwies Lawrow auf eine Gemeinsame Erklärung der NATO und EU vom 10. Januar dieses Jahres: „"Der vereinigte Westen" wird alle bei der NATO und EU vorhandenen wirtschaftlichen, finanziellen, politischen und militärischen Instrumente zur Gewährleistung der Interessen "unserer Milliarde" nutzen".(16)

Während noch vor kurzer Zeit die USA von den Ländern Lateinamerikas forderten, die Verbindungen mit der Russischen Föderation und der Volksrepublik China zu beschränken, sind bedeutende Kräfte der USA und ihrer Verbündeten auf die Unter-grabung des Multilateralismus in der Asien-Pazifik-Region gerichtet, wo sich seit Jahrzehnten um ASEAN ein erfolgreiches offenes System der Zusammenarbeit im Bereich Wirtschaft und Sicherheit gebildet habe. Dieses System ließ konsensuale Herangehensweisen ausarbeiten, die ASEAN-Mitgliedern und ihren Dialogpartnern, darunter Russland, China, Indien, Japan, Australien und der Republik Korea entgegenkommen und einen wahren inklusiven Multilateralismus gewährleisten.

Mit der Präsentation der Indopazifischen Strategien nahm Washington Kurs auf die Zerschlagung dieser Architektur. Lawrow verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass Russland geduldig versucht habe, gegenseitig vorteilhafte multilaterale Vereinbarungen auf Basis des Prinzips der Unteilbarkeit der Sicherheit zu erreichen, das auf der höchsten Ebene in den Dokumenten der OSZE-Gipfel 1999 und 2010 feierlich erklärt wurde: „Dort steht schwarz auf weiß eindeutig geschrieben, dass niemand seine Sicherheit auf Kosten der Sicherheit der Anderen festigen soll und kein Staat, keine Staaten-Gruppe oder Organisation vorteilhafte Verantwortung für die Aufrechterhaltung des Friedens in der Region der Organisation tragen bzw. einen Teil der OSZE-Region als eigenen Einflussbereich betrachten darf."(17)

Darauf scheint die NATO zu pfeifen, wie Lawrow am Beispiel der rechtswidrigen Bombenangriffe auf Jugoslawien 1999 aufzeigt. Er erwähnt auch den Einsatz der abgereicherten Uran-Munition, die anschließend einen massiven Ausbruch von onkologischen Erkrankungen sowohl bei serbischen Staatsbürgern als auch bei NATO-Militärs auslöste, und zitiert den damaligen Senator Joe Biden, der stolz vor Kameras sagte, dass er persönlich zu Bombenangriffen gegen Belgrad und der Zerstörung aller Brücken an der Drina aufgerufen hatte. Heute würde der US-Botschafter in Belgrad, Christopher Hill, via Medien die Serben dazu aufrufen, diese Seite zu schließen und damit aufzuhören, das übel zu nehmen. In Bezug auf die These „damit aufhören, das übelzunehmen" haben die USA eine große Erfahrung. Japan schweigt bereits seit langem darüber, wer Hiroshima und Nagasaki bombardiert hat. In Schulbüchern steht kein einziges Wort darüber.

Es folgen weitere Beispiele eklatanter Verstöße des Westens gegen die UN-Charta:

Die beschämende Invasion der von den USA geführten Koalition im Irak 2003, die Aggression gegen Libyen 2011 (mit dem Ergebnis der Vernichtung von Staatlichkeit und Hundertausenden von Todesopfern) und ebenso die Einmischung der USA in die Angelegenheiten der Postsowjetstaaten. In Georgien und Kirgisistan wurden bunte Revolutionen und im Februar 2014 in Kiew ein blutiger Staatsstreich organisiert. Dazu gehören auch die Versuche einer gewaltsamen Machtergreifung in Belarus 2020. Während die Unabhängigkeit des Kosovo ohne ein Referendum anerkannt wurde, fand die Unabhängigkeit der Krim - trotz des Referendums - keine Anerkennung!

Um den infolge des Staatsstreichs entfesselten Krieg im Osten der Ukraine zu stoppen, wurden im Interesse einer friedlichen Regelung die Minsker Vereinbarungen einstimmig befürwortet. Diese Vereinbarungen wurden aber von Kiew und seinen westlichen Schutzherren zertreten, die vor kurzem selbst zynisch und sogar mit Stolz zugegeben haben, dass sie dieses Übereinkommen nie umsetzen, sondern nur Zeit gewinnen wollten, um die Ukraine mit Waffen zu versorgen, die gegen Russland eingesetzt werden sollten. Dadurch wurde die Verletzung der multilateralen Verpflichtung aller UN-Mitglieder öffentlich zugegeben, die in der UN-Charta verankert ist, die von allen Ländern die Erfüllung der Resolutionen des UN-Sicherheitsrats verlangt.

Die von Putin Mitte Dezember 2021 vorgeschlagenen multilateralen gegenseitigen Sicherheitsgarantien wurden hochmütig abgelehnt. Vor dem Hintergrund der Hysterie, die die USA und die EU gerade vorantreiben, stellt sich Lawrow die Frage: „Und was haben Washington und die NATO in Jugoslawien, im Irak, in Libyen getan? Gab es dort Gefahren für ihre Sicherheit, Kultur, Religion bzw. für ihre Sprachen? Nach welchen multilateralen Normen richteten sie sich, als sie wider die OSZE-Prinzipien die Unabhängigkeit Kosovos ausriefen und wirtschaftlich eigenständige Staaten wie den Irak und Libyen zerstörten, die Zehntausende Meilen weit weg von der US-Küste liegen?"(18)

„Sehr geehrte Kollegen", so endet Lawrow seine Rede, „wir haben eine sehr gefährliche Linie erreicht, genauso wie in den Jahren des Kalten Kriegs - oder sogar eine noch gefährlichere Linie. Die Situation wird umso schwieriger, da der Glaube an die Multi-lateralität verloren gegangen ist, wobei die finanzielle und wirtschaftliche Aggression des Westens die Vorteile der Globalisierung zerstört, wenn Washington und seine Verbündeten auf Diplomatie verzichten und auf Auseinandersetzungen "auf dem Schlachtfeld" bestehen. Wir alle sollten zu den Wurzeln zurückkehren und die Ziele und Prinzipien der UN-Charta, ihre ganze Vielfalt und gegenseitige Verbindung, einhalten."(19)

Wie im Kalten Krieg wird in der heutigen westlichen Öffentlichkeit die eigene Schuld ausgeblendet und der Gegner als das personifizierte Böse dargestellt.

Eine solche Haltung ist zutiefst neurotisch und versperrt den Weg zu einem friedlichen Miteinander.

C.G. Jung: unsere Welt ist wie ein neurotischer Mensch

Schon im beginnenden Kalten Krieg schrieb der Schweizer Psychiater und Psycho-analytiker C.G. Jung (1875-1961), dass unsere Welt wie ein neurotischer Mensch "dissoziiert" sei, wobei der Eiserne Vorhang die symbolische Trennungslinie bilde.

Der westliche Mensch sehe sich gezwungen, außerordentliche Verteidigungsmaß-nahmen zu ergreifen, während er sich gleichzeitig mit seiner Tugend und seinen guten Absichten brüste. Dabei erkenne er jedoch nicht, „dass ihm seine eigenen Laster, die er mit guten internationalen Manieren verdeckt hat, von der kommunistischen Welt systematisch wieder zu Gesicht gebracht werden. Was der Westen toleriert hat, wenn auch nur insgeheim und etwas verschämt (die diplomatische Lüge, systematische Täuschung, verhüllte Drohungen), kommt im Osten ganz offen ans Licht; dem westlichen Menschen grinst von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs sein eigener böser Schatten entgegen"(20).

Jung sieht darin die Erklärung für das Gefühl der Hilflosigkeit bei so vielen Menschen in westlichen Gesellschaften. „Sie haben angefangen zu begreifen, dass unsere Schwierigkeiten moralischer Art sind und wir sie nicht durch eine Anhäufung nuklearer Waffen und durch wirtschaftlichen «Wettbewerb» lösen können. Viele von uns verstehen heute, dass moralische und geistige Mittel wirksamer wären, weil diese uns gegen die immer mehr zunehmende Infektion immun machen könnten."(21)

Ein solches geistiges Mittel wäre die Abkehr von der Dämonisierung des Gegners und eine differenziertere Betrachtung des Konflikts. Schwarz-Weiß-Denken und Vernichtungswille sind immer ein Zeichen für die mangelnde Integration des eigenen Schattens und der dadurch zwangläufigen Projektion der eigenen dunklen Seiten auf den Gegner.

„Wie die Dinge jetzt liegen", so Jung weiter, „sind wir jeder Ansteckung ausgesetzt, weil wir praktisch das Gleiche tun wie sie. Nur haben wir noch den zusätzlichen Nachteil, dass wir weder sehen noch verstehen wollen, was wir selber unter dem Deckmantel des guten Benehmens tun."(22)

Die Forderung nach mehr Solidarität und Gerechtigkeit bei der Bewältigung globaler Risiken ist in der gegenwärtigen Situation von grundlegender Bedeutung.

Das wird aber unter dem Dach einer auf (US-) Regeln basierenden Ordnung nicht möglich sein. Mit diesem Feldgeschrei wird genau das Gegenteil erreicht. Der überwiegende Teil der Menschheitsfamilie hat seit über 500 Jahre unter den Europäern, vor allem Angelsachsen und Nordamerikanern, gelitten. Es ist an der Zeit, dass die westliche Wertegemeinschaft das erkennt und sich respektvoll anderen Kulturen und Menschen gegenüber in eine multipolare Ordnung einbringt. Und es ist auch an der Zeit, das in der Präambel der UN-Charta formulierte Ziel, die Menschheit von der Geißel des Krieges zu befreien, endlich umzusetzen.

Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, erhielt als Pionierhauptmann bei der Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete „atomare Gefechtsfeld" in Europa. Nach zwölfjähriger Dienstzeit studierte er in München Politikwissenschaft sowie Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Seitdem publiziert er zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik. Zuletzt erschienen vom ihm

„Schwarzbuch EU & NATO" (2020)
sowie "Die unterschätzte Macht" (2022)

Quellen und Anmerkungen

1) https://www.foreignaffairs.com/ukraine/world-beyond-ukraine-russia-west

2) Zitiert in ebda.

3) http://www.ag-friedensforschung.de/themen/NATO/strategie.html

4) Im Strategiedokument TRADOC 525-5 vom Oktober 1994 wurde mit der Einführung von "Operations other than War" die subversiven Instrumente geschaffen.

5)https://neinzurnato.de/die-us-hegemonie-und-ihre-gefahren/#more-1315

Die Hegemonie der USA und ihre Gefahren Außenministerium der Volksrepublik China (20. Februar 2023)

6) Weltverfassung ohne Macht – Alfred de Zayas im Gespräch

https://sezession.de/67306/weltverfassung-ohne-macht-alfred-de-zayas-im-gespraech

7) https://www.foreignaffairs.com/ukraine/world-beyond-ukraine-russia-west

8) Ebda.

9) Ebda.

10) Zitiert in ebda.

11) https://www.foreignaffairs.com/ukraine/world-beyond-ukraine-russia-west

12) Ebda.

13) Ebda.

14) Wolfgang Effenberger: „Europas Verhängnis 14/18 – Die Herren des Geldes greifen zur Weltmacht". Höhr-Grenzhausen, S. 86

15) https://mid.ru/en/press_service/minister_speeches/1865243/?lang=de

16) Ebda.

17) Ebda.

18) Ebda

19) Ebda

20) C.G. Jung et al: Der Mensch und seine Symbole. Olten 1987, S. 85

21) Ebda.

22) Ebda.